Pure Cold

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DIE PHOTO ISSUE 2016

Pure Cold

Um die Toten zu ehren, schicken viele Chinesen alle möglichen Habseligkeiten aus Pappe per "Flammen-Express" an die Verstorbenen.

_Aus der Photo Issue 2016_

Ich mag Traditionen. Vermutlich weil ich ohne aufgewachsen bin und dadurch nie eine Abscheu gegen familiäre Schablonen und gesellschaftliche Normen entwickeln konnte. Mein romantisch verklärtes Ich findet die Idee von sonntäglichem Schweinebratenmittagessen, Gesellschaftsspielabenden und den Besuchen besinnlicher Gotteshäuser genauso entzückend und anziehend wie chinesische Touristen glitzernde Mini-Eiffelturm-Schlüsselanhänger.

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Dass letztere tatsächlich einen ähnlichen Zugang zu Tradition haben wie ich—also einen idealisierenden, aber auch unvorbelasteten und spielerischen—, bemerke ich selbst immer mehr, seit ich von Wien nach Shanghai gezogen bin. Besonders eine Tradition verkörpert diese Einstellung perfekt: Die des "Ghost Money".

Mehrmals im Jahr ist es bei der älteren Generation üblich, zu Ehren der Toten Spielgeld zu verbrennen. Traditionellerweise verwendet man dafür sogenanntes "Joss Paper", eine vereinfachte Symbolwährung, aus rotgoldenen Ornamenten und chinesischen Schriftzeichen. Und weil das 21. Jahrhundert das Zeitalter der Individualisierung ist, gibt es mittlerweile nicht mehr nur Fake-Geld, um die Toten zu ehren. Stattdessen haben chinesische Geschäftsmänner das wohl schönste Sortiment des 21. Jahrhunderts kreiert: eine unendliche Palette an Papiermaschee-Produkten für die Toten.

Laptops namens Min Fu Book Pro, Smartphones von Samxing, Zigaretten von Kant oder Lacky Suitke, Luxusuhren und Brieftaschen von Luis Yurtion, aber auch Autos und sogar Häuser gehören inzwischen zum Standardsortiment der Wertgegenstände für die Toten, die per Flammen-Express zu den Verstorbenen teleportiert werden.

Das unstillbare Verlangen nach materiellen Gütern und Konsum macht also auch vor dem Tod nicht mehr halt. Ausgehend von dieser Tradition habe ich mich in diesem Fotoessay mit der Banalität des Gedenkens, der Suche nach eigenen Ritualen und dem Übergang zwischen verschiedenen Realitätsebenen befasst. Geworden ist es ein visueller Erguss über Absurdität und Antispiritualität von Leben und Sterben.

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