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Vice Blog

Was arm sein in Wien bedeutet

Für den ersten Teil unserer neuen VICE Alps-Staffel haben wir Wiener begleitet, die in den unterschiedlichsten Formen von Armut leben.
Alle Bilder: VICE Media

Am 18. Februar ist die erste Folge von VICE Alps Season 2 erschienen, in der wir uns mit Armut in Wien beschäftigen. Zusätzlich wollen wir euch noch ein bisschen mehr Einblicke, Hintergründe und Erlebnisse, die mit den Arbeiten an dieser Reportage verbunden waren, geben.

Gleich zu Beginn: Armut hat auch in einer Stadt wie Wien, in der es einem großen Teil der Menschen sehr gut geht, zu viele Facetten, um sie alle in eine zwanzigminütige Videoreportage zu packen. Das war uns von Anfang an klar, als wir begonnen haben, diese Doku zu filmen und es war auch nie unsere Absicht.

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Per Definition gilt man in Österreich als armutsgefährdet, wenn man monatlich weniger als etwa 1100 Euro zur Verfügung hat. Das trifft auf einen von fünf Wienern zu. Theoretisch lebt zum Beispiel ein großer Teil aller Studenten unter der Armutsgrenze. Entscheidender als das Geld, das man tatsächlich zur Verfügung hat, sind aber oft auch andere Faktoren wie etwa persönliche Zukunftsperspektiven: Wenn du keine realistische Aussicht darauf hast, dich früher oder später in einer sozial oder finanziell besseren Situation wiederzufinden—wenn du zum Beispiel Mindestpensionist bist—, wirst du deine Situation im Regelfall wesentlich schlechter empfinden.

Über die Frage, ob die Armut in Wien und in Österreich steigt oder doch eher sinkt, wird gerne diskutiert. Denn Armut ist in vielen Fällen auch Definitionssache. Die Tatsache, dass es in Österreich einen vergleichsweise noch ziemlich gut funktionierenden Wohlfahrtsstaat gibt, führt jedenfalls dazu, dass in Wien wenige Menschen auf der Straße leben müssen—laut Caritas waren es 2015 im Stadtgebiet einige Hundert.

Gerade weil die Stadt Wien es zu ihrem Ziel erklärt hat, dass im Winter niemand in Wien erfrieren muss, haben wir nachts die Straßen, die Parks und die Donauinsel abgeklappert, um mit jenen Menschen zu reden, die selbst bei Minusgraden im freien übernachten.

Die Leute, mit denen wir uns dabei unterhalten haben, hatten oft haarsträubende Lebensgeschichten zu erzählen und waren nur selten so verschlossen, wie es oft dargestellt wird (beziehungsweise wir es teilweise selbst befürchtet hatten). Gefühlte 90 Prozent der Gespräche fanden zwar abseits der Kamera statt—aus dem einfachen Grund, dass vielen dieser Menschen ihre Situation und ihre Mittellosigkeit verdammt unangenehm ist. Viele wirkten aber auch, als würden sie nur darauf warten, gehört zu werden.

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Die meisten von ihnen waren über die Bürokratie, die mit dem Beschaffen einer Notquartier-Bettes oder einer betreuten Wohnung einhergeht, extrem frustriert oder einfach nur überfordert. Wieder andere verzichteten auf Notschlafstellen, weil sie sich unter keinen Umständen einen Schlafplatz mit anderen Menschen teilen wollten. Sie bleiben in der Nacht ganz bewusst lieber alleine im Freien, als im Warmen zusammen mit einem dutzend anderen Menschen.

Mehr als die Hälfte dieser Leute waren keine Österreicher. Wir haben auf der Straße Leute aus Osteuropa genau so wie aus Italien oder Deutschland getroffen. Da gab es zum Beispiel einen jungen Ukrainer, der seinen fixen Job als Fitnesstrainer hatte, bis er plötzlich gekündigt wurde. Zuerst wusste er nicht warum, bis er bemerkte, dass sein Visum ausgelaufen war. Weil ihm als Nicht-EU-Bürger keinerlei finanzielle Hilfe zustand, verlor er seine Wohnung und schlief seitdem auf einem Kinderspielplatz, weil er nicht zurück in seine Heimat und dort als Soldat eingezogen werden wollte.

Irgendwie drängt sich bei all diesen Geschichten der Gedanke auf, dass das alles wirklich tragische Härtefälle sind, die in der akuten Armut landen. Aber das ist ein ziemlich gefährlicher Irrtum. In Wien hat man es zwar geschafft, dass arme Menschen in den allermeisten Fällen nicht auf der Straße leben müssen. Die finanzielle Not der Leute in dieser Stadt spielt sich aber in den allermeisten Fällen versteckt ab.

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Wenn wir bei der Arbeit an dieser Reportage eines gelernt haben, dann, dass Armut sich in Wien fast immer in den eigenen vier Wänden abspielt. Bei Leuten, denen man tagtäglich begegnet, aber denen man ihre prekäre Situation überhaupt nicht ansieht—auch wenn sie häufig nicht in der Lage sind, sich überhaupt ihr Essen auf regulärem Weg zu leisten.

Sozialsupermärkte wie StartUp, den wir für die Reportage besucht haben, können dem immer größer werdenden Andrang nur mit Mühe gerecht werden. StartUp-Chef Alex Mühlhauser hat uns erzählt, dass sich Tag für Tag dutzende neue Mitglieder bei dem Verein anmelden, um das Lebensmittelangebot in Anspruch nehmen zu können—Studenten, Mindestpensionisten, Flüchtlinge, Mindestsicherungsbezieher.

Außerdem ist uns bewusst geworden, dass Armut besonders oft Frauen trifft, obwohl die sichtbar Betroffenen in vielen Fällen Männer sind. Während viele Männer recht offen mit uns über ihre Lage redeten, war der wahrscheinlich schwierigste Teil dieser Reportage, Frauen zu finden, die bereit sind, über ihre Situation zu sprechen. Und das, obwohl in Wien beispielsweise deutlich mehr Frauen Mindestsicherung beziehen als Männer.

Alleine über die 828 Euro hohe Mindestsicherung, die jedem österreichischen Staatsbürger und auch anerkannten Flüchtlingen zusteht, hätte man eine eigene Reportage drehen können. Flüchtlinge ohne Asylstatus bekommen hingegen nur einen Bruchteil davon—und so kommt es oft, dass Asylwerber über viele Jahre keine 200 Euro im Monat zur Verfügung haben.

Ali, den wir in dem Flüchtlingsheim, in dem er lebt, besucht haben, war zu diesem Zeitpunkt schon seit drei Jahren Asylwerber. Das ist er heute immer noch. Und er ist nicht mal in seinem Heim ein Einzelfall. Neben Ali haben wir dort auch einen Mann kennengelernt, die seit beinahe 15 (!) Jahren als Flüchtling ohne anerkanntem Status in Österreich lebt—15 Jahre, in denen es ihm offiziell nicht erlaubt war, mehr als 200 Euro im Monat zu beziehen.

Tori auf Twitter:@TorisNest