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Stress

Wir sind so gestresst, weil wir nicht an Gott glauben, sagt ein Psychiatrieprofessor

Jetzt in die Kirche zu gehen, bringt laut Dr. Gregor Hasler aber nur bedingt etwas.

Foto von HalloweenNight | Wikimedia | CC BY 2.0

Warum beklagen sich Menschen im Westen über immer mehr Stress, obwohl sie mehr Freizeit haben als ihre Eltern und Grosseltern? Wie kann man stressresistenter werden? Mit diesen Fragen beschäftigt sich der Schweizer Psychiatrieprofessor Gregor Hasler von der Uniklinik Bern in seinem neuen Buch "Resilienz: Der Wir-Faktor".

Dass die Digitalisierung damit zu tun hat, dass wir dauernd gestresst sind, haben mehrere Studien nachgewiesen. Wir checken im Halbstundentakt das Smartphone und auch im Job oder Studium wird oft erwartet, dass wir immer online erreichbar sind. Jedoch gibt es laut Hasler einen weiteren kaum beachteten sozialen Wandel, der Stress begünstigt – Atheismus: "In westlichen Religionen gibt es immer, auch im grössten Chaos, einen roten Faden, der Ereignisse auf sinnvolle Weise verknüpft", schreibt er.

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Die Einsicht, dass jeder Aspekt des Lebens, auch der unfairste und brutalste, das Resultat einer höheren Absicht sei, stärke die Resilienz – unsere Fähigkeit Stress an uns abprallen zu lassen.

Ohne den bedingungslosen Glauben an Gott fehlt uns ganz einfach ein vorgefertigter Sinn des Lebens. Wir sind rastlos auf der Suche nach Dingen und Theorien, die unser Dasein mit Bedeutung füllen. Gerade wenn es mal nicht so gut läuft, zermartern wir uns das Hirn. Wir wollen einen Grund finden, warum wir durch die Prüfung gerasselt sind oder eine Liebe zerbrochen ist. Gefangen im Tellerwäscher-Narrativ – arbeite härter, dann erreichst du dein Ziel – machen wir uns dann oft selbst dafür verantwortlich und somit unglücklich: "Ein von Gott zugeschriebener tiefer Status ist leichter zu ertragen als ein tiefer Status, den man selbst verantwortet", schreibt Hasler.

Religionen böten eine dauernde göttliche Unterstützung im Leben, die auch bei Einsamkeit – einem weiteren Nährboden für Stress - garantiert sei. Der Psychiater belegt dies mit Studien, die zeigen, dass Beten eine ähnlich positive Wirkung auf das Gehirn hat wie Gespräche.

Ist die Lösung unseres Stressproblems also, wieder in die Kirche zu gehen? Hasler, der selber Atheist ist, differenziert: "Die Kirche kann die Resilienz stärken, weil sie eine Gemeinschaft anbietet." Gerade die katholische Kirche, die global aufgestellt sei und die Gemeinschaft stark betone, habe Potential dazu. "Die Daten zeigen aber, dass Religion ohne kirchliche Gemeinschaft an Wirkkraft eingebüsst hat." Mit dem zunehmenden naturwissenschaftlichen Verständnis und einem höheren Bildungsstand sei es für die meisten Menschen nicht mehr möglich, naiv an Religionen zu glauben.

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Die katholische Kirche akzeptiere zum Beispiel die Evolution. "Das zeigt eindrücklich, wie die Wissenschaft und die Idee des Zufalls an Terrain gewonnen haben", sagt Hasler.

Noch schlimmer als der Zufall sei für die Resilienz die gesteigerte Selbstverantwortung: "Ein wichtiger Effekt des göttlichen Handeln ist, dass die Verantwortung für Entscheidungen vermindert wird und damit die Bitterkeit, die man nach falschen Entscheidungen empfindet", sagt der Wissenschaftler. Für ein behindertes Kind zu sorgen sei einfacher, wenn man daran glaube, dass Gott diese Behinderung gewollt habe.

Gregor Hasler gibt in seinem Buch konkrete Ratschläge, wie man Stress verringern kann. Eine stabile Liebesbeziehung zu führen, nicht oft umzuziehen, auf dem Land zu wohnen und Statusvergleiche zu vermeiden, helfe. Das sind alles Dinge, die so gar nicht zum Lifestyle passen, der Millennials nachgesagt wird.

Ich frage Hasler, was er einem urbanen Mitzwanziger raten würde, der lieber Single bleiben möchte: "Freunde könnten ihre WG für ein Jahr nach Berlin oder New York verlegen, und dann gemeinsam zurückkommen. Für Studenten gibt es Austauschprogramme, die das Leben in einer Familie anbieten. Dank der Familie sind die jungen Menschen sehr schnell sozial integriert, auch in der Schule, im Fussball- und Volleyball-Club."


Hinter den Kulissen eines polyamorösen Einhornkults


Es gäbe zudem auch nicht-soziale Formen der Resilienz: "Leute, die klare Ziele haben, sind psychisch widerstandsfähiger als Menschen, die sich planlos durchs Leben schlagen. Wenn ich überzeugt bin, die Kreativität und die Fähigkeiten zu haben, ein erfolgreiches Unternehmen aufzubauen, schützt mich diese Vision vor Rückschlägen und Enttäuschungen."

Gregor Haslers Buch bietet anhand von neuesten Erkenntnissen der Stressforschung, seinen Erfahrungen mit Patienten und historischem Kontext vertiefte Einblicke in die menschliche Psyche. Wenn man nur etwas aus seiner Arbeit mitnehmen kann, dann ist es Folgendes: Jede Form der menschlichen Zuwendung stärkt die psychische Widerstandsfähigkeit.

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