Wie KZ-Arzt Carl Værnet sein gesamtes Leben der Heilung von Schwulen verschrieb
Carl Værnet, Foto: Autor unbekannt.

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Wie KZ-Arzt Carl Værnet sein gesamtes Leben der Heilung von Schwulen verschrieb

So manch ein Wissenschaftler stellte sich in den Dienst der mörderischen Ideologie des Nationalsozialismus und fand so einen Deckmantel für grausame Menschenversuche.

Als am 9. Dezember 1946 der Nürnberger Ärzteprozess begann, stand ein ganzer Berufszweig vor der Anklage. Zahlreiche Ärzte und Mediziner hatten sich in der Zeit des Dritten Reichs zu willfährigen Helfern des nationalsozialistischen Rassenwahns gemacht und eifrig dabei geholfen, die menschenverachtende Ideologie der Nazis wissenschaftlich zu legitimieren.

Die Konzentrationslager boten ihnen dabei geradezu paradiesische Experimentierfelder und ein unerschöpfliches Arsenal menschlicher Laborratten. Grausame Menschenversuche an KZ-Häftlingen „im Dienste der Wissenschaft" standen an der Tagesordnung.

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Schon das Eingangstor zum KZ Buchenwald zeugt von der Menschenverachtung seiner Betreiber. Foto: Imago

Insassen mit dem Rosa Winkel, der Homosexuelle in den Lagern als solche kennzeichnete, zählten dabei zu den beliebtesten Zielgruppen. Man geht davon aus, dass zwischen 10.000 und 15.000 Männer ausschließlich aufgrund ihrer Homosexualität von den Nazis in die Konzentrationslager verschleppt wurden und mehr als die Hälfte von ihnen in diesen ums Leben kam.

„Die Kriegszeit war für Værnet natürlich ideal, denn mit Ausbruch des Krieges hatte sich alles radikalisiert—auch der medizinische Diskurs."

Carl Værnet, ein dänischer Allgemeinmediziner und Mitglied der SS, behandelte nur zehn von ihnen. Was er aber mit diesen zehn Häftlingen anstellte, ging weit über alles hinaus, was jemals von Seiten der Medizin versucht worden war, um Homosexuelle zu „heilen". Im festen Glauben, Homosexualität sei eine therapierbare Krankheit, implantierte Værnet seinen unfreiwilligen Patienten eine Sexualdrüse aus Metall, prall gefüllt mit einem von Biochemikern künstlich hergestellten Hormoncocktail.

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Er versprach sich davon nichts weniger als die „Normalisierung des Sexualtriebs". Obwohl seine Verbrechen gegen die Menschlichkeit schon kurz nach Kriegsende bekannt waren, befand er sich zu Beginn des Ärzteprozess im sicheren Argentinien.

Der Saal für medizinische Experimente im KZ Buchenwald. Foto: Imago

Værnet hatte seine obskure Karriere als praktizierender Arzt 1924 im Alter von 31 Jahren nach Abschluss eines Medizinstudiums in Kopenhagen begonnen. Neun Jahre später eröffnete er dort eine Privatklinik für Kurzwellentherapie und machte sich einen Namen unter der gut betuchten dänischen Bourgeoisie. Bereits zu dieser Zeit hatte das Thema Hormonbehandlung Værnets besonderes Interesse geweckt. Vor allem die Vorstellung, den vermeintlich unausgeglichenen Hormonhaushalt homosexueller Männer durch entsprechende Therapien zurück ins Gleichgewicht zu bringen, faszinierte ihn.

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Værnet stand dabei in engem Kontakt zu einem dänischen Rassehygieniker namens Knud Sand. Dieser hatte—wiederum nach Vorbild des jüdischen Arztes Eugen Steinach aus Österreich—bereits nach Ende des 1. Weltkriegs damit begonnen, Schwulen die Hoden von heterosexuellen Männern zu transplantieren, um eine „Normalisierung" zu erwirken. Værnet dagegen entwickelte eigene mit synthetischem Testosteron gefüllte artifizielle Hoden für Homosexuelle. Die kleinen vergoldeten und perforierten Metallkapseln bezeichnete er als „künstliche männliche Drüse". Nach einem Schnitt in der Leistengegend setzte er sie seinen Patienten unterhalb des Gewebes ein.

„Er glaubte, er können die gesamte Menschheit heterosexuell machen."

Wie Günter Grau und Rüdiger Laumann in ihrem „Lexikon zur Homosexuellenverfolgung 1933-1945" ausführen, wirkte Værnet in einer Zeit, in der derartige Patientenversuche regelrecht in Mode waren: „Ende des 19. Jahrhunderts setzte die Entwicklung zu einer experimentell-naturwissenschaftlich orientierten Medizin ein, in deren Verlauf zunehmend der Versuch am Patienten genutzt wurde, um ein wissenschaftliches Problem zu lösen."

Carl Værnet, Foto: Autor unbekannt.

Auch Medizinhistoriker Prof. Dr. Florian G. Mildenberger sieht eine Hauptursache für die grausamen Versuche Værnets in der Medizin selbst: „Carl Værnet steht in einer langen Tradition an der Grenze zwischen Sexualforschung, Eugenik und Endokrinologie. Seine Forschungen wären ohne die Hodentransplantationen von Steinach nicht denkbar gewesen", so Mildenberger gegenüber Motherboard.

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„Eugen Steinach glaubte, er könne die gesamte Menschheit heterosexuell machen. Knud Sand ist die dänische Version von Steinach. Er ließ als überzeugter Anhänger der skandinavischen Eugenik in Irrenanstalten Kastrationen durchführen, um den sexuellen Trieb von Homosexuellen, Pädophilen, Exhibitionisten und Vergewaltigern zu zerstören. Er dachte, man könne das Volk durch ein paar Schnitte besser machen."

Varnets Versuche waren aus medizinischer Sicht also durchaus en vogue und fanden in in der Ideologie der Nazis, die Homosexuelle als nicht systemkompatibel betrachtete, da sie sich nicht an der Reproduktion der Herrenrasse beteiligten, einen dankbaren Abnehmer.

Es war 1943, als Værnet seine Privatklinik, deren Klientel nach Bekanntwerden von Værnets Kooperation mit den nationalsozialistischen Besatzern zunehmend ausblieb, an die Wehrmacht verkaufte und samt seiner Familie per Militärmaschine nach Berlin übersiedelte. Værnet verlor keine Zeit, in die SS einzutreten und dort seine Hormondrüse zu propagieren. Auf Geheiß von Heinrich Himmler bekam Værnet schließlich die Erlaubnis, seine Erfindung im KZ Buchenwald zu erproben.

Waschraum im KZ Buchenwald. Foto: Imago

„Die Kriegszeit war für Værnet natürlich ideal, denn mit Ausbruch des Krieges hatte sich alles radikalisiert—auch der medizinische Diskurs. Carl Værnet versprach eine einfache Lösung auf dem Stand der modernsten naturwissenschaftlichen Forschung. Das war genau das, was Leute wie den Reichsärzteführer Leo Conti interessierte", erklärt Mildenberger.

Insgesamt 17 KZ-Häftlinge mussten die Behandlungen von Carl Værnet über sich ergehen lassen, zehn davon waren homosexuell. Da ihnen bei erfolgreicher Therapie die Freiheit versprochen wurde (ein Versprechen, das nie eingelöst wurde) und aus Angst um ihr Leben, erklärten alle Patienten nach der Behandlung, keine homosexuellen Neigungen mehr zu verspüren. Und so konnte Værnet am 10. Februar 1945 Himmler persönlich stolz den Erfolg seiner Forschungsarbeiten vermelden. Die benötigten Hormonpräparate hatte er übrigens von der Firma Schering aus Berlin, Vorgänger des heutigen Pharmariesen Bayer, erhalten.

Im darauffolgenden Monat kehrte er mit seiner Familie zurück nach Dänemark und meldete ein Patent auf die „künstliche männlich Drüse" an. Seine Versuche, die Erfindungen an Pharmaunternehmen zu verkaufen, scheiterten jedoch. Obwohl Værnet 1946 von der dänischen Justiz angeklagt wurde, konnte er ungehindert nach Schweden ausreisen und setzte sich nach Argentinien ab. Hier begann er unter dem Namen Carlos Pedro Varnet im argentinischen Gesundheitsministerium zu arbeiten. Bemühungen, die Arbeiten an seiner Hormondrüse weiterzuführen, fanden allerdings keine Beachtung. Værnet verstarb 1965 in Buenos Aires.

Die Tatsache, dass die Verbrechen Carl Værnets heute überhaupt einer breiteren Öffentlichkeit bekannt sind, ist vor allem dem britischen Menschenrechtsaktivisten Peter Tatchell zu verdanken, der 1998 mit seiner LBGT-Aktionsgruppe OutRage! eine offizielle Anfrage an die damalige dänische Regierung zur Causa Værnet stellte (In einem aktuellen Artikel für den Guardian berichtet Tatchell von seinen Bemühungen). Nachdem die Regierung anderthalb Jahre verstreichen ließ, um schließlich kundzutun, dass sie keine Informationen zum Fall Værnet besäße, begannen vier dänische Journalisten anhand von Akten aus dem dänischen Reichsarchiv die Geschichte des Nazi-Arztes aufzuarbeiten und veröffentlichten sie in Form des Buches „Carl Værnet. Der dänische SS-Arzt im KZ Buchenwald." Florian Mildenberger schrieb anschließend für die deutschsprachige Ausgabe, herausgegeben von der Homosexuellen Initiative Wien, ein ergänzendes Kapitel über Eugen Steinach.