FYI.

This story is over 5 years old.

Tech

Gepfiffenes Türkisch stellt unser Verständnis von Sprache und Hirn auf den Kopf

Bisher dachten Forscher immer, dass die linke Hirnhälte für Sprachverarbeitung zuständig ist. Onur Güntürkürun krempelt diese Annahme mithilfe einer exotischen Sprache um.
Onur Güntürkün bei Forschungsarbeiten im Dorf Kuskoy. Bild: Onur Güntürkün

In einem abgelegenen Bergdorf hoch über der türkischen Schwarzmeerküste unterhalten sich die Einwohner von Tal zu Tal manchmal per Pfeifsprache. Das krempelt Forschern zufolge unser bisheriges Verständnis von Sprache um, denn für die Verarbeitung dieser gepfiffenen Sprache werden beide Gehirnhälften aktiv—und nicht nur, wie bisher angenommen, nur die linke.

Bei dem gepfiffenen Türkisch handelt es sich um einen Dialekt mit Wörtern und syntaktischen Codes aus dem Türkischen, die beim Pfeifen allerdings in verschiedene Tonhöhen und Melodien umgewandelt werden. Die Sprache ist ein kleines Exklusiv-Feature des abgelegenen Bergdorfs Kusköy (was passenderweise „Vogeldorf" bedeutet) im Nordosten der Türkei, obwohl weltweit noch mehrere Pfeifsprachen gesprochen (oder gepfiffen?) werden.

Anzeige

„Bevor Telefone und Handys erfunden wurden, war das gepfiffene Türkisch eine extrem praktische Möglichkeit, um sich über riesige Distanzen hinweg in dieser bergigen, unwegsamen Region zu verständigen, in der man wirklich nur sehr schwer herumreisen kann", erklärt Onur Güntürkün, Professor für Biopsychologie an der Ruhr-Universität in Bochum und Hauptautor einer brandneuen Studie zur türkischen Pfeifsprache.

Güntürküns deutsches Forscherteam testet am Beispiel der besonderen Bergdorfkommunikation, ob die Verarbeitung und Verschlüsselung von Sprache wirklich vor allem Sache der linken Gehirnhälfte ist. Güntürkün ist sich sicher: „Ich bin fest davon überzeugt, dass die Prozesse, die mit Gehirnasymmetrien zusammenhängen, schon ganz früh bei der Signalverarbeitung beginnen." Die Pfeifsprache eignet sich besonders zum Überprüfen seiner Hypothese, da ihre Merkmale (Melodie, Tonhöhe, Frequenz) hauptsächlich in der rechten Gehirnhälfte verarbeitet werden.

Die rechte Gehirnhälfte ist nämlich für die prosodische Analyse von Sprache zuständig. Diese kommt zum Einsatz, wenn ein Wort oder ein Satz durch Ton und Geschwindigkeit eine andere Bedeutung bekommt, so Güntürkün: „Die rechte Hemisphäre zieht langsame Modulationen aus dem akustischen Signal".

Forscher übersetzen die Gestensprache der Affen

„Nun ist das gepfiffene Türkisch genau das: akustische Information in Zeitlupe", erklärt er. „Hier haben wir eine Sprache, in der alle grammatikalischen Strukturen und Wörter des Türkischen in eine physische Struktur umgewandelt werden, die aus einem akustischen Signal besteht und sich langsam mit der Zeit verändert," erklärt Güntürkün die Auswahl seines Forschungsgegenstands.

Anzeige

Ein Mann pfeift im türkischen Stil. Bild: Onur Güntürkün

In ihrer Studie versuchen die Forscher mithilfe eines Hörtests herauszufinden, wie die Gehirne von 31 Testpersonen gesprochenes und gepfiffenes Türkisch verarbeiten. Dieser Test ergab, dass gesprochenes Türkisch hauptsächlich auf dem rechten Ohr wahrgenommen wird, was auf eine Signalverarbeitung in der linken Gehirnhälfte hindeutet. Die Pfeifprache wird hingegen auf beiden Ohren gehört und somit in beiden Gehirnhälften verarbeitet.

Sprachasymmetrien im Gehirn können also tatsächlich durch die physische Struktur von Sprache verändert werden. Bisher gingen Forscher fest davon aus, dass Sprache in der linken Gehirnhälfte verarbeitet wird. Für die türkische Pfeifsprache sind jedoch beide Hirnregionen nötig.

„Die rechte Gehirnhälfte greift ein und hilft mit, da sie in der Lage ist, die langsame Veränderung des akustischen Signals zu entschlüsseln. Nachdem sie eine Silbe verarbeitet hat, ist Sprache entstanden, also wird auch die linke Gehirnhälfte gebraucht. Beide Gehirnhälften werden gleichermaßen einbezogen," erklärt Güntürkün.

Bisher gingen Forscher fest davon aus, dass Sprache in der linken Gehirnhälfte verarbeitet wird.
Für die türkische Pfeifsprache sind jedoch beide Hirnregionen nötig.

Als nächstes würde Güntürkün gerne die elektrische Hirnaktivität bei sprechenden und pfeifenden Menschen per EEG messen. Die folgende Idee scheint ihm aber noch „verlockender": „Patienten mit linkshemisphärischem Hirninfarkt können Türkisch weder verstehen noch sprechen. Würden sie allerdings die türkische Pfeifsprache beherrschen, dann wären sie vielleicht in der Lage, bewusst etwas zu verstehen" überlegt Güntürkün. Diese Menschen könnten vielleicht mithilfe dieser Pfeifsprache kommunizieren, da sie die rechte Seite ihres Gehirns dazu benutzen.

Güntürküns Experiment im Bergdorf der Pfeif-Profis dient dazu, seine ursprüngliche Vermutung zu testen: „In der linken Gehirnhälfte findet das Verstehen statt, während in der rechten Gehirnhälfte der akustische Input verarbeitet wird. Das ist zumindest meine Idee, aber ich weiß nocht nicht, ob meine Erklärung auch stimmt. Die Patienten könnten mir helfen, herauszufinden, ob ich mit meiner Annahme richtig liege."