Ein Tag im Hospiz
Das Öllicht brennt, wenn ein Patient verstorben ist | Foto von der Autorin

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Ein Tag im Hospiz

Ankommen, um wegzugehen—ein Ort zum Sterben.

Es war etwas schwierig, einen Termin für den Besuch im Hospiz zu finden. Vor allem, wenn man mit Menschen sprechen möchte, die hier ihre letzten Tage verbringen. Manche von ihnen möchten verständlicherweise nicht darüber sprechen, dass sie hier sind, um zu sterben. Andere können nicht begreifen, dass sie nie wieder nach Hause können. Und viele haben einfach zu große Schmerzen, bekommen zu starke Medikamente, schaffen es nicht mehr aus dem Bett oder sind nicht mehr ansprechbar.

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Einige Male mussten wir verschieben; einmal haben wir den Termin kurzfristig wegen eines Sterbefalls wieder abgesagt, als ich mich gerade auf den Weg machen wollte. Dann klappte es schließlich doch.

Max ist ein bisschen aufgeregt, als er erfährt, dass ich heute kommen werde, um mit ihm zu reden. Er muss sich noch mal am Vormittag hinlegen, wie mir später erzählt wird—er bekommt schwer Luft und ist schwach. Max ist 85 und hat Lungenkrebs. Als ich in das Zweibettzimmer im Hospiz am Rennweg komme, fragt ihn die Krankenschwester, ob er schon mit dem Essen fertig sei, denn die "Journalistin ist jetzt da". Er schiebt die letzte Petersilienkartoffel beiseite und sagt: "Immer her damit!"

Max hat längere weiße Haare und einen weißen Bart. Der Schlauch der Schmerzpumpe zieht seinen braunen Pulli am Hals herunter. Er freut sich über den Besuch, aber er erklärt sofort, dass er sich nicht lange mit mir unterhalten kann. Er hat seine Stimme verloren und versucht mit schwerem Atem laut zu flüstern, damit ich ihn überhaupt verstehen kann. Er beugt sich über mein Aufnahmegerät, damit auch "ja alles drauf ist".

Vor mir sitzt jemand, der bald sterben wird. Das Hospiz steht für etwas, das selten positiv besetzt ist—es ist die "Sterbestation", wie sie viele Leute nennen. Und trotzdem hat Max noch die Hoffnung, vielleicht nach Hause zu können. Er erzählt mir, dass er an Atemnot leide, den Lungenkrebs erwähnt er nicht. "Ich wünsche mir, dass ich meine Stimme wieder bekomme und mich so halbwegs verständigen kann", sagt er.

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Max' Zimmer auf der Palliativstation

Zuerst wurde Max vom mobilen Hospizteam bei sich zu Hause betreut. Soweit es auch für die Angehörigen möglich ist, werden die Patienten in ihrem gewohnten Umfeld gepflegt und betreut. Max kam erst vor ein paar Tagen in das Hospiz am Rennweg. Seine Frau ist nämlich für drei Tage zum Keksebacken in Niederösterreich. "Sie kommt aber sonst jeden Tag her", erzählt er.

Die Betreuung der Angehörigen nimmt im Hospiz einen großen Stellenwert ein. Silvia Langthaler ist Psychotherapeutin und war davor sechs Jahre Krankenpflegerin auf der Station. Oft seien die Patienten schon zu schwach, um ein Gespräch zu führen, sagt sie. Deshalb begleitet sie vor allem die Angehörigen—oftmals auch Kinder. "Die Kommunikation zwischen den schwerkranken Personen und ihrer Familie ist schwerer, als man sich vorstellen kann", meint Silvia.

Die Angst, den anderen mit seinen eigenen Emotionen zu sehr zu belasten, hindere viele Menschen in dieser Situation, miteinander zu reden. "Ein typisches Verhalten ist, dass der Patient genau weiß, was passieren wird und die Angehörigen auch— aber beide Seiten schweigen darüber", erzählt sie. "Man muss auch die Gefühle des Anderen aushalten und das fällt vielen sehr schwer."

"So wie die Menschen gelebt haben, so sterben sie auch"

In Max' Zimmer stehen zwei Betten. Eigentlich unterscheidet sich der Raum nicht wesentlich von einem Zimmer im Krankenhaus. Die Bettwäsche ist allerdings farbig und auf den Holzregalen neben dem Bett stehen persönliche Gegenstände. Max hat zwei gerahmte Bilder von seinen Kindern und Enkelkindern mitgebracht. Auch sein Hund ist auf einem der Fotos.

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"Das war mein Jagdhund, der ist schon gestorben", erzählt er. Der Hund wurde kremiert, die Urne stehe bei ihm zu Hause. "Wenn ich sterbe, dann lasse ich mich gemeinsam mit meinem Hund im Wald begraben", sagt Max. Er hat bereits alles für eine Naturbeerdigung veranlasst. Nach der Einäscherung seines Körpers soll er mit seinem Hund in einem Wald in Gießhübl beerdigt werden. Die Frau und die Kinder wüssten Bescheid.

Ich frage mich, ob Patienten im Hospiz ihre Beerdigung planen und wie sie sich mit diesem Thema auseinandersetzen. Silvia Langthaler erklärt, dass die Pläne und die Auseinandersetzung mit dem Tod so unterschiedlich seien wie die Patienten selbst. "So wie die Menschen gelebt haben, so sterben sie auch", sagt Silvia. Bei Ehepartnern würde das oft sehr deutlich werden. In der Beziehung ändere sich auch am Ende des Lebens nichts. "Wenn ein Ehepaar nie viel miteinander gesprochen hat, dann werden sie das auch am Ende ihres Lebens nicht tun. Ich sage ihnen dann nicht, sie sollen neue Strategien ausprobieren, das wäre wirklich falsch", erzählt sie.

Der Eingangsbereich der Station

Auf dem Gang und den Sitzecken der Palliativstation sind nur wenige Angehörige zu sehen. Viele verbringen die Zeit mit ihren Lieben in den Zimmern, gehen spazieren oder setzen sich auf die Terrasse. Acht Zimmer für 12 Gäste bieten genug Raum, um mit der Familie allein sein zu können. Vereinzelt sitzen Personen auf den gepolsterten Sitzmöbeln am Gang. Bunte Bilder an den Wänden, Bücher, Spiele und Pflanzen lassen ihn wohnlicher aussehen als ein Krankenhaus. Irgendwie erinnert mich alles an das Therapiezentrum, in dem ich meinen Großvater besucht habe—eine gemütlich eingerichtete Krankenstation.

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Das Pflegepersonal und die vielen ehrenamtlichen Mitarbeiter gehen bei ihrer Ankunft zuerst Richtung Personalküche und Aufenthaltsraum. Eine Öllampe im Eck vor der Flügeltür zeigt ihnen, ob jemand verstorben ist. Das Licht brennt so lange, bis die Verstorbenen um 20 Uhr abgeholt werden. Bis dahin sind sie im Mediationsraum, wo sich Angehörige in Ruhe verabschieden können.

Es fühlt sich komisch an, in diesem kleinen, kühlen Raum zu stehen. Heute ist er leer und ich darf mich hier kurz umsehen. Eine gepolsterte Eckbank ist in U-Form entlang der Wand angebracht. Darüber hängt ein riesiges Bild, das als Vorlage für einen Wandteppich gedacht war. Die Ordensschwester, die den Wandteppich anfertigen wollte, verstarb kurz bevor sie ihn fertigstellen konnte.

Man hat auch nicht das Gefühl, dass alle traurig und bedrückt von Zimmer zu Zimmer gehen

Es ist eine sehr ruhige, angenehme Stimmung im Raum und ich merke, wie ich plötzlich selbst ganz still werde—als würde jemand mit einer angenehmen Stimme auf mich einreden. Der Raum befindet sich am Ende des Ganges gleich neben der Personalküche. Draußen am Gang herrscht eine andere Stimmung. Es ist fast so, als würde man aus der Kirche gehen und sich wieder in der Realität befinden.

Die Mitarbeiter begrüßen sich am Gang, lachen miteinander und sprechen auch mal über Privates—so wie in einem Pflegeheim oder im Krankenhaus, nur dass es hier nicht so hektisch zugeht. Man spürt, dass sich alle MitarbeiterInnen Zeit füreinander und für die Patienten und deren Angehörigen nehmen. Umarmungen und körperlicher Kontakt sind hier nichts Ungewöhnliches.

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Man hat auch nicht das Gefühl, dass alle traurig und bedrückt von Zimmer zu Zimmer gehen. Natürlich kommen Angehörige mit gesenktem Blick durch die Eingangstür und verschwinden in den Zimmern. Aber im Grunde ist die Stimmung viel positiver, als man es sich von einem Hospiz erwarten würde. Das Personal kümmert sich gleich um die Menschen, die durch die Eingangstür kommen, besprechen kurz mit ihnen, wie es dem Patienten in den letzten Stunden oder Tagen ergangen ist. Fixe Besuchszeiten gibt es hier keine. Auch Übernachtungen sind möglich.

"Das Schönste ist, den Menschen noch einen Wunsch erfüllen zu können und mit ihnen auf dieser persönlicheren Ebene zu arbeiten"

Die zwei Stationskatzen besuchen die Hospizgäste in den Zimmern und hängen auf den Polstermöbeln am Gang herum. Vor ein paar Jahren gab es hier einen Kater, der sich immer vor die Tür setzte, wenn jemand im Zimmer verstorben ist, erzählt man mir hier. "Rocky" spazierte angeblich auch ein paar Stunden vorher vor dem Zimmer herum.

In den wärmeren Monaten halten sich viele Hospizgäste auch draußen auf. Die Station hat mehrere Terrassen, die auf den bepflanzten Hof ausgerichtet sind. Mit Bettenliften gibt es sogar die Möglichkeit, bettlägerige Patienten hinaus und runter in den Garten zu bringen, wo sie nicht nur tagsüber sondern auch über Nacht bleiben dürfen.

Karin Holzer ist seit sieben Jahren Krankenschwester auf der Palliativstation. Sie erlebt die Arbeit als etwas sehr Besonderes. Es sei eine Ehre, die Menschen am Ende ihres Lebens begleiten zu dürfen. "Das Schönste ist, den Menschen noch einen Wunsch erfüllen zu können und mit ihnen auf dieser persönlicheren Ebene zu arbeiten", sagt sie. Im Hospiz ist eine Krankenschwester für vier Patienten zuständig.

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"Einer der letzten Wünsche einer Patientin war es, ein Eis zu essen—ein ganz normales Eskimoeis. Sie konnte eh nur mehr drei Löffel davon essen. Aber das war ihr größter Wunsch", erzählt sie. Ich frage sie, wie sie es schafft, nach ihrem Dienst abzuschalten und privat nicht mehr daran zu denken, dass heute jemand verstorben ist. "Es wird auf eine gewisse Weise normal, möchte ich fast sagen. Aber mir hilft es, nach schwierigen Diensten zu duschen. Da lasse ich das dann da und fühle mich irgendwie befreit. Dann habe ich noch eine längere Autofahrt vor mir, bis ich zu Hause bin", erzählt sie.

Besonders schwierig wäre die Arbeit, wenn junge Patienten sterben—vor allem, wenn dann Kinder zurückbleiben, die gerade einen Elternteil verloren haben. "Das ist etwas, das man dann nicht so schnell hier lässt", sagt sie.

In der Kinderspielecke auf der Station finde ich Bilderbücher, die speziell das Thema Tod behandeln. "Kinder trauern ganz anders als Erwachsene", erzählt Silvia Langthaler. "Es ist hier sehr wichtig, dass sie noch einmal den Toten sehen um zu begreifen, was passiert ist". Es sei wichtig, nicht die Trauer aufzulösen, sondern auszulösen.

Kinder würden nur so lange trauern, wie sie es aushalten, meint Silvia. "Ich habe einmal ein achtjähriges Mädchen zu ihrer toten Mutter begleitet. Sie hat zehn Minuten bitterlich geweint, wirklich fürchterlich, hat die Mutter angegriffen. Dann sagte sie plötzlich 'Du, ich will jetzt die Katze füttern' und das war eine sehr komische Situation für mich", erzählt Silvia. Es sei aber ein völlig normales Verhalten. Kindern müsse auch klar gesagt werden, was es bedeutet, wenn ein Mensch stirbt."

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Silvia Langthaler und auch Karin Holzer begleiteten Menschen und deren Angehörigen nicht nur in den letzten Tagen ihres Lebens, sondern waren auch dabei, wenn Hospizgäste ihren letzten Atemzug machten. Ich frage mich, wie es ist, einen Menschen sterben zu sehen. Als mir gesagt wird, dass vor einigen Minuten eine Frau auf der Station verstorben ist, weiß ich nicht, wie ich damit umgehen soll. Ich kenne diese Frau nicht und es berührt mich daher nicht wirklich. Irgendwie ist es trotzdem ein komisches Gefühl, dass ein Mensch gerade ganz in meiner Nähe gestorben ist.

"Es ist ein ganz persönlicher, ruhiger Moment", sagt Silvia. "Irgendwie ist es auch ein Warten, bis man sich sicher sein kann—das war's jetzt. Eine ganz mystische Stimmung ist im Raum. Fast so, als würde ein Kind geboren werden." Es komme auch beim Sterbeprozess darauf an, wie der Mensch war, als er noch gelebt hat. "Manche kämpfen bis zum Schluss und bäumen sich richtig auf. Andere sind ganz ruhig und sterben ganz friedlich", sagt Silvia.

Karin Holzer ist überzeugt, dass die Person selbst entscheidet, wann sie geht: "Ich bin der Meinung, dass sich der Patient auch aussucht, ob er alleine ist. Wir versuchen, beim Sterben dabei zu sein, aber manchmal geht man nur für fünf Minuten raus und gerade dann passiert es." Es mache auch nicht jeder die Augen zu und schläft ruhig ein, meint Karin. Manche kämpfen bis zum Schluss und sterben dann auf eine dramatische Weise. "Wenn es dann soweit ist, verabschiedet man den Patienten, öffnet das Fenster und lässt ihn ruhig liegen und die Seele austreten", sagt sie.

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Auszug aus dem Buch—ein Brief an den Vater

Im Aufenthaltsraum des Personals hängt eine weiße Tafel, auf der die Namen und das Alter der Patienten stehen, die in den letzten Tagen verstorben sind. Die jüngste Patientin war ein 18-jähriges Mädchen. In einem Buch im Meditationsraum tragen manche Familienmitglieder der Verstorbenen letzte Gedanken in Briefform ein. Das Buch in die Hand zu bekommen und lesen zu dürfen, machte mich ein wenig sprachlos.

Als ich über die Briefe lese, kommen mir die Tränen. Ich frage mich, was den Sterbenden am Ende ihres Lebens besonders wichtig ist. "Das gleiche, was ihnen im Leben auch besonders wichtig war. Das sind sehr unterschiedliche Themen", erklärt mir Silvia.

Manche würden sich besonders um ihre Angehörigen Sorgen machen. Andere erzählen noch etwas, was ihnen wichtig ist. "Eine Patientin sagte mir, sie habe nicht ihre große Liebe geheiratet. Sie hätte sich für einen braven, vernünftigen Mann entschieden. Das hat sie zuvor nie jemanden erzählt", sagt Silvia. Ein anderer Patient hätte erklärt, dass er keine Angst mehr habe, seit ihm der Arzt mitgeteilt hätte, dass er an der Krankheit sterben würde. "Manche wollen auch eine Therapie bis zuletzt und kämpfen bis zum letzten Tag", so Silvia.

Max hat keine Schmerzen, sagt er. Nur die Stimme hätte er gern wieder. Heute war seine Nichte überraschend zu Besuch. Das Sprechen mit ihr fiel ihm sehr schwer. Sein Blick ist müde, die Hände hält er zittrig zusammen. Als ich ihn frage, ob es noch jemanden gibt, von dem er sich einen Besuch wünscht, wird er plötzlich leise. Er bittet mich, die Frage zu wiederholen. Er antwortet: "Eigentlich ja, ich sehe jeden gern." Danach wird er schnellatmig. "Wir müssen Schluss machen, ich kann nicht", sagt er.

Ich verabschiede mich von Max und bedanke mich für das Gespräch. Vielleicht komme ich ein anderes Mal vorbei, sage ich ihm. "Ja, bei Gelegenheit, kommen Sie. Heute geht es nicht mehr." Im Hospiz wird auf die Bedürfnisse der Gäste eingegangen. Wer alleine sein will, darf alleine sein. 243 Personen sind im Jahr 2015 auf der Palliativstation im Hospiz verstorben.

Mehr Infos zum Hospiz und zur Sterbebegleitung auf der Palliativstation findet ihr hier.

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