Wladimir Putin und sein größter Widersacher, Oppositionspolitiker Alexej Nawalny über den auf dem Portal Abendlich Hamburg Fake News verbreitet wurden
Fotos: imago | ITAR-TASS | Collage: VICE
Politik

So sieht Deutschland durch eine russische Propaganda-Brille aus

Eine Fake-News-Schleuder ist über Geflüchtete und Putin-Gegner Alexei Nawalny hergezogen. Nun ist die Seite offline – aber das Internet vergisst nicht.

Nur einen einzigen Klick lag die Parallelrealität entfernt: Ein russisches Portal, das zeigen sollte, wie verkommen der Westen ist – und das Russlands wichtigsten Oppositionellen diskreditierte.

Ein Chefredakteur einer britischen Fachzeitschrift erklärt, dass die Wissenschaft in der Pandemie von der Politik unterdrückt werde. Kabarettistin Lisa Eckhart sei keine Antisemitin: "Wer bei Eckhart genauer hinhört und hinschaut, findet vielmehr Parallelen zu Bertolt Brecht." Und in den USA seien die Liberalen "kriegslüsterner als Konservative". Wer all diese Meldungen verpasst hat, hat vielleicht zu selten Abendlich Hamburg gelesen. Seit Ende November ist die Seite offline.

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Ihre unglaublichste Meldung: Alexej Nawalny, russischer Oppositionspolitiker, ist ein Produkt westlicher Geheimdienste, die aber enttäuscht von ihm seien, weil er Russland nicht schnell genug destabilisieren würde. Er solle deshalb durch seine Frau Julia ersetzt werden - das "belarussische Szenario". In Belarus trat Swetlana Tichanowskaja im August bei der Präsidentschaftswahl an, weil ihr Mann von Diktator Lukaschenko eingeknastet worden war. 

Ein Artikel über Lisa Eckhart bei Abendlich Hamburg

Screenshot: Abendlich Hamburg | archive.org

Zuerst hatte die Zeit über Abendlich Hamburg und deren erfundenen Nawalny-Coup berichtet. Zwei Tage nach der vermeintlichen Sensationsmeldung war die Seite aus dem Netz verschwunden. Aber weil heute jedes Portal und jeder Ausrutscher auf der Tastatur von speziellen Webdiensten verewigt wird, die das Internet archivieren, bietet sie weiterhin einen interessanten Einblick in einen obskuren Kosmos.

Abendlich Hamburg war zwar dilettantisch gestaltet, ging aber inhaltlich voll rein. Da wurde darüber geschrieben, dass Geflüchtete mittlerweile mit dem Flugzeug nach Deutschland einreisen würden. Im Text über Lisa Eckhart hieß es, sie habe "weder etwas mit Rassismus noch mit Antisemitismus zu tun. Es geht ihr vielmehr darum, die Widersprüche jeder Haltung – auch die des sogenannten Gutmenschentums – zu entlarven." Und dann gab es noch einen Artikel darüber, dass Terrorgruppen die Pandemie dazu nutzen würden, um "bizarre Theorien zu verbreiten". Das Portal erzählte seine Story von einen moralisch verkommenen Westen, der selbstverschuldet von migrantischen Horden überrannt wird.

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Der Sinn all dessen lag wohl vor allem darin, die Fake News über Nawalny zu streuen. Er erholt sich gerade in Deutschland von seiner Vergiftung mit dem Nervenkampfstoff Nowitschok. Dabei macht es nichts, dass der Artikel teilweise so wirkt, als sei er mit Hilfe von Google Translate und ohne viel Hirnschmalz entstanden. Über die Meldung, dass Nawalny von russischen Geheimdiensten vergiftet wurde, schrieb Abendlich Hamburg: "Die Geschichte erwies sich als so schlecht zusammengestrickt, dass die Fäden daraus in alle Richtungen herausragen und für alle ausnahmslos sichtbar sind." Es könnte auch eine Selbstbeschreibung des Propaganda-Portals sein.

Allerdings wollte das Portal nie deutsche Leser gewinnen, sondern diente als Multiplikator für russische Nachrichtenseiten. Sie zitierten den Artikel, andere Seiten zitierten die ersten Seiten - so schufen die unbekannten Meinungsmacher einen Referenzrahmen, der sich selbst beständig erweiterte. Quasi ein propagandistisches Perpetuum mobile. Am Ende weiß keiner mehr, dass der Ursprung eine dreiste Erfindung gewesen ist. Auch heute findet sich die Meldung über Nawany auf zahlreichen Seiten. Abendlich Hamburg ist gestorben, um weiter zu leben.

Auf der Fake News-Seite Abendlich Hamburg erschien im November dieser Text über Alexej Nawalny.

Screenshot: Abendlich Hamburg | archive.org

Ohnehin war die Seite als Märtyrer für die putinschen Propagandisten nochmal genauso wertvoll wie zu ihrer aktiven Zeit. So konnten sie in sozialen Medien behaupten, die ehrlichen Journalisten seien mundtot gemacht worden, weil sie unbequeme Wahrheiten berichtet hätten. Wer diese "ehrlichen" Journalisten waren, wird sich dabei wohl nie wirklich klären lassen. Die Suche nach den Autorennamen unter den Artikeln führt ins Nichts, ein Impressum hat die Seite nie gehabt.

Dabei ist sie keinesfalls alleine in digitalen Sphären. Wie netzpolitik.org gerade analysiert hat, existiert sogar ein europaweites Netz gefälschter Medien in verschiedenen europäischen Ländern. Thematisch arbeiten sie sich an ähnlichen Inhalten ab wie Abendlich Hamburg.

Während Nawalny offiziell als politisches Kleingewicht verspottet wird, haben russische Investigativjournalisten enthüllt, dass es im Kreml eine ganze Abteilung gibt, die gegen ihn vorgeht. Und Nawalny selbst? Ruht sich erstmal aus. Anfang Dezember postete er auf Facebook über einen "sehr bedeutsamen" Umstand aus seinem Leben: Zum ersten Mal habe er Lust verspürt, selbst zu kochen. Pfannkuchen. Er sei dieser Lust umgehend gefolgt. Mit ihm auf dem Foto zu diesem Beitrag steht seine Frau Julia. Ersetzt wurde hier bisher niemand.

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