Es ist ein heißer Donnerstagmittag, wir befinden uns im Pedion tou Areos, einem der größten Parks von Athen. 15 Leute – die meisten davon junge Männer zwischen 16 und 22 – treffen sich hier seit September 2020 jeden Tag zum Kampfsporttraining. Dabei werden sie von Hamid Norusi unterstützt, einem 30-jährigen iranisch-afghanischen Kickboxmeister und Geflüchteten. Er bringt der Gruppe Boxen, Kickboxen und Muay Thai bei.
Anzeige
Die Sonne knallt unerbittlich vom Himmel, aber Majid, Zahra, Shabir und Iqbal, vier Geflüchtete aus Afghanistan, sind viel härtere Umstände gewohnt. Nach ihrer Ankunft in Griechenland kamen die meisten Mitglieder der Kampfsportgruppe in das berüchtigtr Geflüchtetenlager Moria, das vor dem Brand im September 2020 das größter Lager dieser Art in Europa war. Einige von ihnen waren bereits vor ihrer Flucht erfahrene Boxer oder Muay-Thai-Kämpfer. Die anderen suchten nach einer Ablenkung von den unerträglichen Zuständen in Moria.Bekannt wegen der maßlosen Überfüllung und der fehlenden grundlegenden Ressourcen wurde das Moria-Lager auf der griechischen Insel Lesbos von den Menschen, die dort lebten und arbeiteten, als Hölle auf Erden beschrieben. Gedacht war das Lager für knapp 3.000 Geflüchtete, zu Hochzeiten hielten sich dort ungefähr 13.000 auf.
Das Training wird von der auf Lesbos ansässigen NGO Yoga and Sports with Refugees veranstaltet. Die Organisation will mithilfe von Sport den Geflüchteten dabei helfen, mit Stress und langwierigen Asylverfahren klarzukommen. Das Projekt, das 2017 gegründet wurde, bietet unterschiedlichen Sport an – von Wandern über Yoga bis hin zu Kampfsport. "Hier können wir am meisten bewegen", heißt es auf der Website der NGO. Das Ziel sei es, Leuten dabei zu helfen, die Hoffnung nicht zu verlieren und den Traum von einem Leben in Sicherheit weiter zu verfolgen.
Anzeige
Das Kampfsportprogramm wird sowohl auf dem griechischen Festland als auch auf Lesbos angeboten, die Migrantinnen und Migranten sollen so ihre "Energie, Wut und Spannung" kanalisieren und sich in "Disziplin und emotionaler Selbstkontrolle" üben, so die NGO. Insgesamt haben schon über 20.000 Menschen durch das Projekt verschiedene Sportarten ausprobiert. Wir haben mit einigen der jungen Männer und Frauen gesprochen, die im Pedion tou Areos trainieren. Dabei haben sie uns von ihrem Weg nach Griechenland und ihrer Leidenschaft für den Kampfsport erzählt.
Iqbal Αlikhil, 17: "Ich bin 18 Tage und Nächte durchgelaufen"
Vor rund eineinhalb Jahren kam Iqbal auf eigene Faust von Afghanistan über die Türkei nach Griechenland. "Ich bin 18 Tage und Nächte durchgelaufen", sagt er. "Wir hatten weder zu essen noch zu trinken." Über Thessaloniki schaffte er es bis nach Athen. "Ich hatte große Angst vor der Polizei, weil ich keine Dokumente dabeihatte."Iqbal hatte erstmal sieben Monate lang keine Bleibe, weshalb er im gleichen Park übernachtete, in dem er jetzt trainiert. "Es war sehr hart. An manchen Tagen hat es stark geregnet, an anderen war die Sonne zu viel", erzählt er. Heute lebt er zusammen mit anderen Afghanen in einer Wohnung, seine Mitbewohner hätten ihm sehr geholfen. Für die nächsten sechs Monate hat Iqbal eine Aufenthaltserlaubnis für Griechenland, aber die Behörden haben ihm auch schon das grüne Licht gegeben, zu seinen beiden Brüdern nach Deutschland weiterzureisen. Er hofft, dass er bald dorthin ziehen kann.
Anzeige
Iqbal boxt seit zwei Jahren. In Afghanistan sagte man ihm zwar, dass er ziemlich gut sei, aber dort hatte er einfach nicht die Möglichkeit, sich weiterzuentwickeln. In Griechenland fing er dann an, nachts alleine zu trainieren. "Immer wenn ich wegen meiner Lebensumstände traurig war, boxte ich, um mich besser zu fühlen", sagt er. Schließlich stieg er in das organisierte Training im Pedion tou Areos ein und habe dort laut eigener Aussage schon viel dazugelernt. "Ich will Weltmeister werden", sagt Iqbal. "Wenn ich in Deutschland bin, werde ich sofort einem Verein beitreten und dort weiter boxen." Außerdem will er wieder zur Schule gehen und einen Antrag auf eine Zusammenführung mit seinen Eltern stellen, die noch in Afghanistan sind.
Majid Ahmadi, 20, hat 2020 die Meisterschaft der Panhellenic Muaythai Federation gewonnen: "Kampfsport ist mein Leben"
Als Majid 14 Jahre alt war, zog er mit seiner Familie von Afghanistan in den Iran. "Dort habe ich mit dem Muay-Thai-Training begonnen", erzählt er. Vor drei Jahren ging es dann weiter in die Türkei, einen Großteil der Reise legte er zu Fuß zurück. Von dort aus schaffte es Majid nach Lesbos, wo er eineinhalb Jahre in Moria lebte."Die Situation in Moria war sehr hart. Ich habe den ganzen Tag in Warteschlangen verbracht, um etwas zu essen zu bekommen. Die Leute stritten sich die ganze Zeit, weil sie es nicht mehr aushielten, ständig nur zu warten", sagt Majid.
Anzeige
Der Winter war besonders hart. Majid fror die ganze Zeit, und der Regen fand immer einen Weg in die Zelte. Nach einem Jahr begann Majid, sich bei Yoga and Sports with Refugees zu engagieren und dort Muay-Thai-Training anzubieten. "Die Organisation hat mir wirklich geholfen", sagt er.
Heute lebt Majid zusammen mit fünf anderen Leuten in einer Wohnung, die von einer lokalen NGO bereitgestellt wird. Außerdem geht er wieder zur Schule. "Ich lerne gerade Griechisch, aber die Sprache ist schwierig", sagt er. "Ich will hier bleiben und weiter trainieren."Majid trainiert bis zu sechs Stunden täglich und träumt davon, mehr Meisterschaften zu gewinnen. Dazu würde er eines Tages – wenn seine Dokumente fertig sind – gerne nach Thailand reisen, um seine Kampftechnik zu perfektionieren. "Kampfsport ist mein Leben", sagt er.
Zahra Khware, 17: "Ich will auf jeden Fall an Wettbewerben teilnehmen"
Zahra ist vor einem Jahr mit ihrer Familie von Afghanistan aus über die Türkei nach Griechenland gekommen. Die ersten sechs Monate verbrachten sie in Moria. "Wir hatten kein fließendes Wasser und nicht genügend zu essen. Nach jedem Regenschauer stand unser Zelt unter Wasser", erzählt sie.Heute lebt Zahra in einer Wohnung im Zentrum von Athen. Sie hat sich mit anderen Geflüchteten angefreundet – darunter auch eine junge Frau, die sie zum Training im Pedion tou Areos mitgenommen hat. "Ich trainiere dreimal die Woche. Ich will stärker werden und arbeite hart, um alles zu schaffen. Und ich will auf jeden Fall an Wettbewerben teilnehmen", sagt sie.
Anzeige
Zahra hofft, eines Tages zu ihrem Vater nach Deutschland zu können, und wartet darauf, dafür die richtigen Papiere zu bekommen. Obwohl sie es dieses Jahr nicht geschafft hat, zur Schule zu gehen, will sie ihren Bildungsweg in Deutschland fortsetzen. "Mein größter Traum ist es, Schauspielerin zu werden", erzählt sie.
Hamid Norouzi, 30, Trainer und Kickboxmeister: "Ich bin ein Kämpfer, ein professioneller Athlet, ich habe keinen anderen Job"
"Ich wurde zwar in Afghanistan geboren, aber noch im Babyalter ging es weiter in den Iran", sagt Hamid. Im Iran trat er in über 200 Kickboxkämpfen an und hat mehrere internationale Titel gewonnen.Vor zwei Jahren kam Hamid zusammen mit seiner Familie nach Griechenland. Sie sind allerdings noch im ganzen Land verstreut: Hamid lebt in Athen, seine Eltern und zwei Geschwister leben in Thessaloniki und sein Bruder ist immer noch in Moria. "Wir wollen ihn natürlich zu uns holen", sagt Hamid.
Hamid verbrachte selbst sechs Monate in Moria und trainierte dort andere Geflüchtete über Yoga and Sport with Refugees. Jetzt führt er das Programm im Athen weiter. "Ich bin ein Kämpfer, ein professioneller Athlet, ich habe keinen anderen Job", sagt Hamid. "Ich will Weltmeister werden. Der Ring ist mein ganzes Leben."
Shabir Hasani, 18: "Mein Ziel ist es, professioneller Muay-Thai-Kämpfer zu werden"
Anzeige
Vor über drei Jahren musste Shabir seine Familie in Afghanistan zurücklassen, um über die Türkei nach Griechenland zu kommen. Dort lebte er erstmal eineinhalb Jahre im Moria-Geflüchtetenlager und trainierte dort trotz der widrigen Umstände weiter Muay Thai. "Es gab regelmäßig Auseinandersetzungen zwischen Geflüchteten aus verschiedenen Ländern", erzählt er.Heute ist Shakir kurz davor, seinen Schulabschluss zu machen, und lernt Griechisch und Englisch. Er hofft, danach Informatik zu studieren. "Ich weiß noch nicht, ob ich in Griechenland bleiben oder weiterziehen will, aber mein Ziel ist es auf jeden Fall, professioneller Muay-Thai-Kämpfer zu werden", sagt er.