Was ich gelernt habe, als ich Menschen beim Ausweiden eines Bullen zuschaute

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Was ich gelernt habe, als ich Menschen beim Ausweiden eines Bullen zuschaute

Der Wiener Künstler Hermann Nitsch war für eine seiner Blut-Sex-Aktionen nach Tasmanien gekommen und ... heiliger Bimbam!

Es war ein Samstagmittag, als Menschen im australischen Hobart die Organe aus einem toten Bullen rissen. Die Männer rissen Herz, Leber und Nieren in einer Art ritualisiertem Kampf heraus, schleuderten sie durch die Halle, knallten sie gegeneinander und rieben sich damit ein. Das archaisch anmutende Schauspiel war Teil einer Kunstaktion des 78-jährigen Österreichers Hermann Nitsch, der weltbekannt ist für seine sexuell aufgeladenen und blutigen Kreuzigungsschauspiele. 150. Aktion, wie das Stück hieß, war Nitschs, dreimal darfst du raten, 150. derartige Aktion, aber die erste im australischen Tasmanien – und nicht alle Tasmanier waren begeistert.

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Um 10 Uhr morgens standen Demonstranten vor der Halle des Museum of Old and New Art(Mona). Mitglieder von Animal Liberation Tasmania hatten sich vor dem Eingang positioniert und hielten der immer länger werdenden Schlange von Besuchern Spiegel vor, damit sie sich selbst sehen konnten. Das Mona selbst, Tasmaniens größtes Museum für moderne Kunst, hatte hingegen keinerlei Probleme mit Nitsch und seiner blutigen Kunst. "Wir werden nicht davor zurückschrecken, Werke zu zeigen, die uns herausfordern, die ethischen Implikationen unseres Handelns heute und in der Vergangenheit zu überdenken", hatte Leigh Carmichael, der kreative Leiter des Museums, gegenüber der Lokalzeitung im Vorfeld verkündet.

Alle Fotos mit freundlicher Genehmigung von Dark Mofo | Lusy Productions

Während ich so in der Schlange stand, war ich mir nicht ganz sicher, wie ich mich fühlen soll. Ich bin selbst Vegetarier und konnte die Argumente der Demonstranten irgendwie nachvollziehen. Andererseits war da die Tatsache, dass der Bulle in der Fleischindustrie aufgezogen und geschlachtet worden war. Er war also schon von seiner Geburt an verdammt gewesen, was laut Nitsch auch der Dreh- und Angelpunkt bei der ganzen Geschichte ist. 2015 sagte der Künstler: "Ich bin ein Dramatiker und ein Dramatiker muss mit der Tragödie arbeiten, mit dem Tod. Ich versuche, den Tod von Tieren zu zeigen, das Schlachten von Tieren." Jeder, der ihn kenne, wisse, dass er ein Tierschützer sei. "So wie ich das sehe, ist die industrielle Tierhaltung das größte Verbrechen unserer Gesellschaft."

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Damit stand die Entscheidung fest, ich wollte mehr über Tragödie und Tod lernen.

Wir sammelten uns in einer großen Scheune, wo wir weiter warteten und mit alkoholischen Getränken anfingen. Ich lief herum und fragte die Anwesenden, warum sie gekommen waren. Das Verhältnis zwischen "Ich weiß es selbst nicht" und "Ich habe starke und geradezu manische Gründe" war unter den Antworten ziemlich ausgeglichen.

Rakini Devi

Das ist Rakini Devi. Sie schreibt ihre Doktorarbeit über die Rolle des Ritualismus in säkularen Gesellschaften. Sie war extra von Wollongong, unweit von Sydney, die rund 1.500 Kilometer nach Hobart gekommen. Für sie ging es darum, sich mit den Überschneidungen ihres Hindu-Hintergrunds, in dem "das religiöse Ritual Teil des Alltags ist", und ihrer australischen Heimat auseinanderzusetzen, "wo es das nicht ist". Für Rakini hatte der Tod bei der Aktion weniger mit Nahrung als mit einem Opfer zu tun.

Schließlich wurden wir in eine andere große Hafenhalle geleitet und stellten uns um eine große, weiße Bahn auf. Dann kam ein alter Mann mit großem, weißen Bart angehumpelt und nahm ganz vorne Platz. Dieser Mann war Hermann Nitsch. Bereits jetzt roch es stark nach Blut und Fisch.

Der nun folgende Ablauf ging etwa so: Ein älterer Typ blies in eine Flöte und eine nackte Person wurde auf einer Liege rausgebracht, sie kippten ihr Blut in den Rachen und trugen sie wieder weg. Das wiederholte sich ein paarmal, bis ein anderer Typ anfing, Fische auf einem Tisch aufzuschneiden und Blut über sie zu gießen, gefolgt von Milch, gefolgt von noch mehr Blut. Alle trugen weiß. Ein Blasorchester spielte langgezogene, einzelne Töne.

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Das ist ein schönes Foto, aber nicht das Foto, das ich wirklich haben wollte. Eigene durfte man leider nicht machen. Ich hätte am liebsten ein Foto von diesem Typen gehabt, der auf der weißen Bahn hin und her rannte und Blut auf den Boden tropfen ließ. Alle Zuschauer wichen zurück, als er vorbeilief – nur nicht der exzentrische Museumsbesitzer und Multimillionär David Walsh, der in der ersten Reihe stand und sich amüsiert dreinschauend seine Nikes (nigelnagelneue Free Run 5.0s) und seine Jeans mit Blut besprenkeln ließ.

Danach wurden nackte Menschen gekreuzigt und mit noch mehr Blut übergossen. Nach zwei Stunden hatte ich langsam Hunger. Ich hatte nicht gefrühstückt, nur Grog getrunken (nicht vergessen, in Australien ist gerade Winter) und dieses ganze Blut und die ganze Nacktheit entfalteten langsam aber sicher ihre Wirkung. Ich hatte richtige Heißhunger auf ein Fleischsandwich und bei einer Orgie hätte ich auch nicht Nein gesagt.


Aus dem VICE-Netzwerk: Ein Blick hinter die Kulissen satanischer Kunst


Tatsächlich war mein Hunger der einzige Kritikpunkt an der Aktion. Keine Frage, Hermann Nitschs Aktion war definitiv auf Provokation gebürstet und um diese zu erreichen, drückte er ein paar altbekannte Knöpfe auf der Empörungsklaviatur. Am meisten wunderte mich daran, dass Menschen sich überhaupt noch davon provozieren lassen. Warum finden wir Kunst mit Tod, Sex und Religion immer noch anstößig? Das sind alles Dinge, mit denen wir tagtäglich zu tun haben. Damit möchte ich mich aber nicht nur über Menschen beschweren, sondern auch über die Kunst. Provokante Kunst kommt nämlich immer mit den gleichen paar Zutaten:

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  • Blut
  • Tränen
  • Brüste
  • Pimmel
  • Komische Musik
  • Kreuze
  • Irgendwelches Gemurmel
  • Pipi
  • Kacka
  • Nazis
  • Kadaver
  • Geschrei
  • Strobolichter

OK, letztendlich ist es doch mehr eine Kritik an den Menschen. Kontroverse Kunst funktioniert nur, wenn sie auf Inhalte zurückgreift, die die Gesellschaft kontrovers findet. Also eine Bitte an alle: Esst einen Lachs-Bagel und lasst euch dabei den Hintern lecken. Die geometrische Symmetrie ist geradezu göttlich und ihr werdet euch selbst nicht wiedererkennen.

Endlich, ENDLICH brachten sie den Bullen rein. Zuerst rissen sie ihm alle Organe raus – die übrigens mit Obst gemischt waren – und machten daraus einen schönen, schleimigen Haufen. Dann fingen sie an, sich gegenseitig mit den Organen einzureiben, was das Ganze sehr spanisch anmuten ließ: eine Mischung aus Tomatenschlacht und Stierhatz. Der Gestank war überwältigend. Ein großer Teil der Zuschauer hatte Mühe, Haltung und ihr Frühstück bei sich zu behalten. Überhaupt war es großartig, das Publikum zu beobachten. Den einen war kotzübel, die anderen schauten drein wie potentielle Serienmörder.

Danach war das Spektakel vorbei und ich konnte endlich losrennen, um mir ein Reuben Sandwich zu besorgen. Ich hatte während des Schauspiels eine richtige Lust auf Fleisch entwickelt, obwohl ich seit Jahren keins mehr gegessen hatte. Mein Reuben kam dann passenderweise auch mit lebensspendender Milch in Form geschmolzenen Käses und blutiger Pastrami, umhüllt von der Aura des Todes. Das Sandwich war unfassbar befriedigend, aber sollte auch eine absolute Ausnahme bleiben. Weil jetzt mal ernsthaft: Massentierhaltung ist einfach abartig. Und ich finde … OK, das war wohl alles, was ich gelernt habe.

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