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'Attentat 1942': Was das neue Spiel über Nazi-Verbrechen kann und warum es in Deutschland bisher nicht erscheint

Als Spieler begibst du dich auf eine fesselnde Zeitreise in das von Nazis besetzte Prag und bringst Licht in dunkle Kapitel der Gestapo-Machenschaften. Ausgerechnet deutsche Spieler werden aber wohl wieder eine andere Version vorgesetzt bekommen.
Bild: Charles University | Czech Academy of Sciences

Prag, 27. Mai 1942: Tschechischen Widerstandskämpfern gelingt ein erfolgreicher Anschlag auf den SS-Offizier Reinhard Heydrich. Ein Ereignis mit weitreichenden Konsequenzen für die von den Nazis besetzte Tschechoslowakei. Die Vergeltung der deutschen Besatzer ist verheerend: Agenten der Gestapo nehmen willkürlich Bürger zum Verhör fest, über 1.300 Menschen werden hingerichtet, ganze Dörfer ausgelöscht.

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Attentat 1942, ein an der Prager Karls-Universität und der Akademie der Wissenschaften der Tschechischen Republik entwickeltes Computerspiel, bereitet diese Verbrechen des Nationalsozialismus sorgfältig auf. Im deutschen Steam-Store wird es vorerst allerdings nicht erscheinen.

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Mit der historisch relevanten Abbildung von Hakenkreuzen, SS-Runen und Hitlergrüßen stößt das semi-dokumentarische Adventure nämlich in Deutschland auf dieselben rechtlichen Hindernisse wie etwa Wolfenstein II: The New Colossus. Dabei ist Attentat 1942 im Gegensatz zu dem politisch kontrovers diskutierten Ego-Shooter prädestiniert für die Anwendung der sogenannten Sozialadäquanzklausel: Laut § 86a Abs. 3 des deutschen Strafgesetzbuches kann für Lehre und Kunst eine Ausnahme beim Verbot der Darstellung verfassungsfeindlicher Kennzeichen gemacht werden – und Attentat 1942 verfügt sowohl über einen klaren Bildungsanspruch als auch über einen kreativ-künstlerischen Umgang mit der Aufarbeitung der Geschichte.

Jakub Hein ist ein ehemaliger Mithäftling des Großvaters der Protagonistin. Wird er mehr über dessen Festnahme durch die Gestapo wissen? Je nach Dialogoption verläuft das Gespräch mehr oder weniger erkenntnisreich | Bild: Charles University | Czech Academy of Sciences

Die Wahrheit siegt

Nach der Ermordung des Holocaust-Planers und stellvertretenden Reichsprotektors Heydrich wird der Großvater der Protagonistin von Attentat 1942 in große Schwierigkeiten verwickelt. Die Gestapo nimmt ihn fest, verhört und deportiert ihn schließlich. Aufgabe der Spieler ist es, in der Gegenwart endlich die Hintergründe dieser scheinbar willkürlichen Festnahme aufzudecken. In interaktiven Dialogen mit Familienmitglieder und Weggefährten sowie durch die Recherche in alten Dokumenten suchen die Spieler Stück für Stück nach den fehlenden Puzzlestücken der Vergangenheit. Unterbrochen wird diese Spurensuche dabei immer wieder durch kurze Minispiele, etwa das Verstecken verbotener Flugblätter oder das Verfassen systemkonformer Zeitungsartikel.

Attentat 1942 gelingt es dabei, eine packende Story zu erzählen, ohne die historische Tragweite der Ereignisse zu verharmlosen. Fiktive Zeitzeugen erzählen vom Leben unter der Nazi-Herrschaft, Archivaufnahmen zeigen die ungeschönte Realität der Konzentrationslager, atmosphärische Comicstrips schließen erzählerische Lücken, und der verspielte Soundtrack der Band DVA untermalt zurückhaltend das Geschehen. Ein ausführliches Lexikon wird regelmäßig um historische Hintergründe ergänzt und kann jederzeit im Pausemenü abgefragt werden. Mit jedem neuen Interview wird die Geschichte der Festnahme des Großvaters vielschichtiger. Was Anfangs nur wie großes Pech erscheint, wird bald zur Auseinandersetzung mit den Risiken des antifaschistischen Widerstands und dem Überlebenskampf der Opfer nationalsozialistischer Verfolgung.

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In historischen Dokumenten und fiktiven Tagebüchern erfahren die Spieler mehr über den Alltag in der von den Nazis besetzten Tschechoslowakei. Manche Texte müssen jedoch vorher erst in einem Minispiel dekodiert werden | Bild: Charles University | Czech Academy of Sciences

Alles richtig gemacht und trotzdem zur Selbstzensur genötigt

Obwohl Attentat 1942 also alles richtig macht, den Holocaust sorgsam thematisiert und klare Position gegen den nationalsozialistischen Terror bezieht, beschäftigt das Spiel nun die Rechtsabteilung der Karls-Universität. Laut eines offiziellen Statements auf Facebook arbeiten die Entwickler zur Zeit an einer speziellen Version des Spiels für den deutschen Markt. Auf Nachfrage von Motherboard Deutschland zum Ausmaß der geplanten Änderungen antworten sie nicht. Es ist jedoch davon auszugehen, dass verfassungsfeindliche Kennzeichen sowie historische Filmaufnahmen, die solche abbilden, für die deutsche Version der Schere zum Opfer fallen. Eingriffe, die den aufklärerischen Kern von Attentat 1942 untergraben. Ähnliche Zensuren für Spielveröffentlichungen sind in der Vergangenheit nicht nur Spielern von Wolfenstein: The New Colossus sauer aufgestoßen, und auch auf der Facebookseite von Attentat 1942 schreiben Nutzer: "No 'german edition' please…".


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Tatsächlich ist die rechtliche Situation um das Spiel hierzulande bisher unklar: Zwar ist eine Anwendung der Sozialadäquanzklausel auf Attentat 1942 nicht grundsätzlich ausgeschlossen, es fehlt jedoch an verbindlichen Präzedenzfällen, die ausreichende Rechtssicherheit dafür schaffen. "Höchstrichterliche Rechtsprechung, etwa vom BGH, vom Bundesverwaltungsgericht oder vom Bundesverfassungsgericht gibt es zu der Frage gar nicht", sagte etwa der Medienanwalt Sebastian Schwiddessen in einem Interview mit der GameStar. Veraltete Urteile, beispielsweise zur Beschlagnahmung des Klassikers Wolfenstein 3D im Jahr 1994, stellten die mögliche Sozialadäquanz von Computerspielen erst gar nicht zur Debatte. Einen potenziellen Verstoß gegen §86a des Strafgesetzbuches riskieren Entwicklerstudios, Publisher und Distributionsdienste wie Steam daher lieber nicht.

Egon Mareš hat sich als Jude lange Zeit vor den Nazis versteckt. Der Großvater des Protagonisten war mit ihm zusammen in einer Jazz-Band. Hat das die Gestapo auf ihn aufmerksam gemacht? | Bild: Charles University | Czech Academy of Sciences

Risiko first, Rechtssicherheit second?

Ähnlich wie Attentat 1942 geht es der deutschen Produktion Through the Darkest of Times, die sich mit dem deutschen Widerstandskampf gegen das Nazi-Regime beschäftigt und zur Zeit in Berlin entwickelt wird. "Momentan muss man, selbst wenn man eine USK-Freigabe bekäme, berechtigte Angst haben, zu drei Jahren Gefängnis und einer hohen Geldstrafe verurteilt zu werden", beschreibt der Game-Designer Jörg Friedrich gegenüber Motherboard die Situation. Sein Kollege Sebastian Schulz und er verzichten vorsorglich auf verfassungsfeindliche Kennzeichen in ihrer Indie-Produktion.

Zwar betonte etwa bereits Olaf Zimmermann, der Geschäftsführer des Deutschen Kulturrates, dass sich an der bestehenden Zensur- und Selbstzensur-Praxis etwas ändern muss, Rechtssicherheit würde jedoch erst ein riskanter Prozess vor Gericht schaffen. Wird die Sozialadäquanzklausel erstmals konkret auf ein Computerspiel angewendet, können andere mit geringerem Risiko folgen. Doch bisher war kein Spieleentwickler bereit, das Risiko einer solchen Pionierarbeit zu leisten. Bis so ein Fall vorliegt, kann man zumindest bei Attentat 1942 noch auf die DRM-freie und unzensierte Version auf der offiziellen Homepage zurückgreifen.