Rückzug – Eine Kurzgeschichte über die unglückliche Suche nach dem Glück
Fotos von Sarah Palmer

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THE LOOKING GLASS ISSUE

Rückzug – Eine Kurzgeschichte über die unglückliche Suche nach dem Glück

Alan und Amanda besuchen einen buddhistischen Retreat und legen ein Schweigegelübde ab, doch die viele Besinnung hat unerwartete Folgen.
RM
Übersetzt von Ruby Morrigan

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Er sprach schon seit Jahren davon. Sie hatte Verständnis. Letzten Endes gehörte das ja auch zu seiner Anziehungskraft: Er war eben reifer und solider als die Männer in ihrem Alter. Also vereinbarten sie kurz vor der Hochzeit, dass sie zusammen an einem Retreat teilnehmen würden. Es war wie eine Generalprobe für die Flitterwochen, aber auch das Gegenteil von Flitterwochen, denn sie würden beim Retreat weder zusammen schlafen noch miteinander reden. Sie würden erfrischt und sogar "gereinigt" zurückkehren, sagte er, doch sie wusste nicht ganz, was er damit meinte. Kurz danach würden sie heiraten und in Brasilien flittern. Ein perfekter Plan.

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Amanda konnte ihrer Familie nur schwer erklären, dass sie eine Woche lang nicht erreichbar sein würde. Nein, auch keine SMS. So seien nun mal die Regeln des Retreats, erklärte sie am Telefon. Man lasse für eine Woche sein Leben hinter sich, um alles klarer zu sehen.

Ihre Mutter war daran gewöhnt, täglich zu hören, wie es ihr ging, und fand, das alles klinge nach Gefängnis.

"Alan will hin, und ich will mit", sagte Amanda und lächelte ihren zukünftigen Mann über den Tisch hinweg an. Und damit war das Gespräch beendet.

"Ich möchte aber nicht, dass du dorthin fährst, nur weil ich will", sagte er. "Wenn du selbst gar nicht willst, wirst du es hassen." Er habe das schon oft gesehen, erklärte er. Leute, die von Freunden zum Retreat gedrängt wurden, gaben am zweiten oder dritten Tag auf. "Es wird wirklich zum Gefängnis, wenn du nur meinetwegen mitfährst."

"Das hab' ich nur Mama zuliebe gesagt", lachte Amanda. "Dass ich wirklich selbst hin will, würde sie doch nie verstehen. Eine Woche stillsitzen – sie würde denken, ich habe den Verstand verloren."

"Aber dass dich ein älterer Mann entführt, das ist in Ordnung, ja?"

"Vielleicht nicht, aber so sieht sie es jetzt eben!" Am Tag vor der Abreise scherzten sie über ihre Familie und machten ausgiebig Liebe. Die Beziehung war unbeschwert glücklich, seit er in ihr Leben geplatzt war und ihr Herz erobert hatte. Oder umgekehrt – wie er es beschrieben hätte. Sie hatten keinen Moment getrennt voneinander verbracht.

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***

Das Kloster war eigentlich ein Bauernhaus auf einer Anhöhe 30 Kilometer nördlich von Carlisle. Sie reisten mit Zug und Taxi aus London an. Die Schlafquartiere waren in einem anderen Gebäude, etwa 100 Meter entfernt. Am Nachmittag trafen sich die Teilnehmer dort, um den Stundenplan und die Regeln zu erfahren. Die Weckzeit war um fünf. Die Männer schliefen im Erdgeschoss, die Frauen im Ersten. Frühstück gab es um sieben, Mittag um zwölf, und danach gab es den Rest des Tages nichts mehr.

"Gleich, bei der abendlichen Puja, legen wir ein Schweigegelübde ab", sagte die Organisatorin, eine gutaussehende Frau in ihren 50ern. "Wir nennen es das Edle Schweigen. Aber macht bitte kein Dummes Schweigen daraus. Wenn ihr krank seid, oder wenn es einen Notfall gibt: Sprecht, um Himmels willen. Und wenn ihr Hilfe braucht, könnt ihr euch natürlich für ein Gespräch mit dem Retreat-Leiter, Madewela, eintragen."

"Lass uns die Regeln genau befolgen", sagte Amanda hinterher. Sie hatten vor der Puja und dem Gelübde gerade genug Zeit für einen letzten Spaziergang. Sie nahmen den schmalen Pfad über die Hügel. "Nicht reden wird schwierig, aber ich sehe keinen Sinn in dem Ganzen, wenn wir mogeln."

Alan freute sich, dass er ihr das nicht erklären musste, fragte sich aber auch, ob sie das nur sagte, weil sie wusste, dass er es hören wollte.

"Wie ist dein Schlafraum?", fragte er.

Sie sagte, es würden je fünf Frauen im Zimmer schlafen, auf Matratzen. Es würde bestimmt alles passen.

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Als sie um eine Wegbiegung kamen, mussten sie zum Schutz vor dem Wind ihre Kapuzen aufsetzen. Sie lachten und umarmten einander und teilten einen tiefen Blick.

"Kaum zu glauben, dass wir August haben."

"Kaum zu glauben, dass wir in ein paar Wochen in Rio sein werden!"

Der Wind trug den Klang eines Gongs über das geplättete Gras und die rauschenden Bäume.

***

Der Meditationssaal war luftig und schön. Ein großer schwarzer Buddha saß vorn über einem weißen Tisch mit Kerzen und Räucherwerk. Zu beiden Seiten war er von üppigen Blumengestecken flankiert. Hauptsächlich Lilien. Acht kahlrasierte Mönche in orangenen Roben saßen einander im Schneidersitz gegenüber. Weiter hinten ließen sich die etwa 20 Teilnehmer ordentlich aufgereiht auf Matten und Kissen nieder und schauten auf den Buddha zwischen den Mönchen, dessen rechte Hand zu einer friedvollen Segensgeste erhoben war. Zu beiden Seiten gab es Fenstertüren, Oberlichter ließen noch mehr Tageslicht in den Raum. Der Wind drückte gegen das Glas. Alan saß auf seinem Kissen, schloss die Augen und konnte fühlen, wie das Licht kam und ging, während die Wolken über die Sonne hinwegzogen. Amanda hatte sich auf einen Platz vor ihm gesetzt, ein Stück weiter rechts. Er konnte ihren schmalen Rücken sehen, aber nicht ihr Gesicht. So war es perfekt. Er würde beurteilen können, ob alles in Ordnung war, ohne durch Blickkontakt abgelenkt zu werden, dachte er.

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Es war nicht Alans erster Retreat, doch am dritten Tag war er restlos überzeugt, dass es der bisher beste war. Die Atmosphäre war wundervoll. Es half enorm, dass die Mönche bei jeder Meditation dabei waren. Die jungen Männer – sie waren fast alle in den 20ern – erschienen voll offensichtlichem Vergnügen zum stundenlangen Sitzen. Ihre stille Freude schien sich wie Parfüm im Raum zu verbreiten, sodass Alan sich an ihrer Gelassenheit festhalten und bis zum Ende durchhalten konnte, selbst wenn seine Oberschenkel und Knöchel furchtbar schmerzten. Er war stolz darauf, dass er nicht sein Kissen verlassen und sich auf einen der Stühle an der Hinterwand gesetzt hatte wie manche Teilnehmer. Er fand es immer wieder interessant, dass man gleichzeitig stechenden Schmerz und tiefen Frieden verspüren konnte. Es gab sogar Situationen, wo beides voneinander abzuhängen schien. In den langen Minuten des Schweigens jeden Morgen und Nachmittag konzentrierte er sich darauf, jegliche Spur von verbalen Gedanken aufzulösen. Schließlich hatte er nichts, über das er nachdenken musste. Seine Karriere lief. Er war Ende 40 und hatte sein Leben unter Dach und Fach. Nach einer schwierigen ersten Ehe lag nun das wahre Glück vor ihm.

Und dann gab es diesen spirituellen Aspekt. Je mehr Jahre vergingen, desto stärker wurde dieses Gefühl der … Nun, wie konnte man dazu sagen? "Dies-heit" war das einzige Wort, das ihm einfallen wollte, als er nach einer wundervollen Meditation seine Schuhe auf der Veranda anzog und mit den Anderen in die windige Helle der nordenglischen Landschaft zurückkehrte. Dies-heit. Das Leben ist nicht mehr und nicht weniger als dies. Dieser Körper, dieser Atem, diese windige Landschaft. Warum um alles in der Welt brauchen wir so lange, um zu schätzen, wie einfach eigentlich alles ist! Doch wo war Amanda? Sie war bereits zum Mittagessen gegangen.

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Innerhalb der allgemeinen Ruhe gab es, zugegeben, auch ein paar Störfaktoren. Alan konnte den Chants bei den morgendlichen und abendlichen Pujas nur wenig abgewinnen. Es war in Ordnung, wenn die Mönche auf Pali sangen – das hatte eine hypnotische Feierlichkeit – doch nicht, wenn die Teilnehmer auf Englisch mitchanten sollten. Sie lasen dabei aus einer Art Gesangsbuch. Alan versuchte es ein paarmal, doch der Text war zu peinlich. Modernes Englisch eignete sich einfach nicht zum Chanten. Die Stimme der Frau links von ihm hatte etwas fürchterlich Frommes oder gruselig Kirchliches, fand er. Sie war komplett meditativ ausstaffiert, mit einer orientalischen Tunika und einer schwarzen Leinenhose. Es war ihm unangenehm.

Nachts schnarchte einer der jüngeren Männer im Schlafraum laut. Alan würde nicht über ihn fluchen; er hatte einen Vorrat an Ohrstöpseln. Doch er lag auf seiner dünnen Matratze auf dem Boden wach, lauschte dem pfeifenden, röchelnden Atem und fragte sich, wann er endlich einschlafen würde. Auch morgens gab es ein Problem, mit der Toilette. Nachdem er gefrühstückt hatte – eine Schüssel Joghurt, Obst und Müsli – musste er immer dringend. Doch alle Teilnehmer hatten eine tägliche Hausarbeit zugeteilt bekommen, und der Mann, der das Bad im Erdgeschoss putzte, machte es immer gleich nach dem Frühstück. Dabei brauchte er so elend lange, dass der Gong für die nächste Session schon erklang, bevor er fertig war. Alan musste hineinflitzen und innerhalb von ein paar Minuten fertig sein. So was trug nicht zur Gelassenheit bei.

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Dann war da die ältere Frau, die sich beim Mittagessen vordrängelte und mehr nahm, als ihr zustand, sodass dreimal, als er der Letzte war, für Alan kaum mehr blieb als das lange Warten bis zum nächsten Morgen. Insgesamt freute sich Alan aber, dass er seinen Teller nicht so volllud wie manche Leute. Er würde sicher bis zum Ende der Woche abgenommen haben, dachte er. War ja auch keine schlechte Idee, wenn man eine 20 Jahre jüngere Person heiratete.

Er freute sich auch, dass Amanda perfekt in den Retreat zu passen schien. Zuvor hatte sich ihre Meditationserfahrung auf die paar Minuten am Ende der Yogastunde beschränkt. Er hatte Angst gehabt, sie würde das stundenlange Sitzen zu schmerzhaft oder langweilig finden. Zu intensiv vielleicht. Er hatte eine Krise, Wut oder Tränen befürchtet. Doch sie blieb morgens und abends auf ihrem Kissen sitzen, wurde nur ganz selten ein wenig unruhig. Es machte ihn zuversichtlich.

Und sie hielt das Edle Schweigen ein. Am zweiten Morgen hatte das Paar seine erste Gelegenheit, gegen die Regeln zu verstoßen. Alan eilte nach seinem Toilettenbesuch zum Meditationssaal, Amanda ging langsamer vor ihm. Er konnte sehen, wie ihre Hüften sich unter der weiten Hose bewegten. Es waren noch etwa 50 Meter. Der schmale Feldweg ging ein wenig bergauf, rechts gesäumt von einer Hecke und links von einer niedrigen Steinmauer.

Er holte auf. Sie waren allein. Alle anderen waren bereits im Saal. Sie hätten leicht ein paar Worte flüstern können, ohne jemanden zu stören. Wie geht's. Ich liebe dich. Freu' mich so auf Rio. Doch auch wenn sie den Kopf kurz drehte, als sie Schritte hörte, wandte sie sofort den Blick ab, als er auf ihrer Höhe war. So gingen sie die wenigen Schritte Seite an Seite, einander deutlich bewusst, aber ohne einander anzusehen. Auf der Veranda schlüpften sie aus ihren Schuhen und gesellten sich leise zum Rest. Alan war so stolz auf sie. Sie hatte den Geist des Ganzen voll und ganz verstanden. Was für eine Ehefrau er sich da ausgesucht hatte!

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Nach zwei oder drei weiteren solchen Begegnungen – an der Spüle beim Abwaschen der Teetassen, an der Wäscheleine beim Aufhängen der Handtücher – kam zu dem Stolz ein etwas besorgter Drang, zu erfahren, was in ihr vorging. Sie war fast schon zu eigenständig.

Am vierten Tag hatte er sie zum Beispiel während des recht bizarren Tamtams beobachtet, das hier vor dem Mittagessen veranstaltet wurde. Er hatte so etwas auf anderen Retreats nie erlebt. Die Mönche aßen im alten Vordersalon des Bauernhauses, neben dem Meditationssaal. Rechts vom Eingang gab es ein kleines Podium, wo zwei ältere Mönche neben einem weißen Buddha saßen. Ansonsten war der Raum völlig unmöbliert. Dem Eingang gegenüber saßen die restlichen Mönche im Schneidersitz die Wand entlang. Jeder saß auf einem kleinen orangenen Tuch, umgeben von Schüsseln, Tassen und Besteck. Um sich zu bewegen oder auch nur um diese Position zu halten, ohne etwas umzuwerfen, mussten sie durchgehend wachsam, aufmerksam sein. Und darum ging es natürlich beim Buddhismus, dachte Alan.

Als alle Teilnehmer sich an die Wand gegenüber den Mönchen gesetzt hatten, sangen die Mönche zusammen auf Pali, wobei sie sich immer wieder auf den Knien vor dem Buddha verneigten. Bei jeder Verbeugung – die Mönche vollführten drei davon, wann immer sie einen Raum mit einem Buddha betraten oder verließen – mussten sie den Stoff ihrer äußeren Robe festhalten, damit er ihnen nicht über die Schulter nach vorn fiel. Wieder schien alles darauf ausgelegt, dass sie extrem gut aufpassen mussten. Nach dem Chanten standen sie auf und liefen in einer Reihe zur Küche hinter dem Salon, die großen Zinnschüsseln in der Hand. Dort holten sie sich Essen und Trinken vom Buffet. Wieder im Salon stellten sie alles auf den Boden, knieten sich hin und verbeugten sich dreimal, bevor sie sich wieder setzten und endlich einer der Älteren einen kleinen Gong schlug, der ihnen gestattete zu essen. Erst dann konnten sich die Teilnehmer ihr Essen holen.

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Am vierten oder fünften Tag kam Alan ein wenig zu spät zum Mittagessen. Der Chant hatte schon begonnen und er wollte nicht stören, also setzte er sich direkt neben die Tür, den Rücken an der Wand. Er stellte fest, dass er so Amanda sehen konnte, die zu seiner Linken zwischen zwei Frauen saß. Alle drei waren völlig konzentriert auf das ausführliche Ritual der Mönche. Sie war eindeutig sehr schön, dachte Alan, auch wenn sie natürlich gerade kein Make-up und farblose, weite Kleidung trug. Ihr langes blondes Haar war lebendig, voll Wellen und Locken, ihr Kiefer war stark, ihre Lippen fest und voll, ihre Stirn hoch. All das war vertraut. Doch da war auch etwas Neues: eine Entschlossenheit in ihrem Körper und eine Leichtigkeit in ihrer Sitzhaltung, derer er sich zuvor nicht bewusst gewesen war. Plötzlich hatte er den deutlichen Eindruck, sie trotz den zwei Jahren, in denen sie zusammengelebt hatten, nicht wirklich zu kennen. Hätten sie miteinander gesprochen, hätten sie einander in die Augen gesehen, hätte er sie natürlich sofort wieder gekannt. Doch in der Stille und der Distanz des Retreats war sie eine Fremde, und als sie endlich ihr Essen holten, nahm Alan seines mit auf die Bank vor dem Haus, während sie sich hinter dem Haus zu den Leuten auf der Mauer um den Gemüsegarten gesellte.

Nach den langen Meditationen waren die abendlichen Vorträge eher enttäuschend, fand Alan. Erst gab es eine 30-minütige Puja, dann sprach Madewela für etwa eine Stunde. Bei diesen Gelegenheiten hoffte man, insgesamt mehr übers Meditieren und den Buddhismus zu lernen und natürlich auch die leidige Frage zu klären, wie man die Meditation in den Alltag integrieren kann. Doch Madewela – er stammte wohl trotz seines exotischen Namens, den er sicher bei der Weihe angenommen hatte, aus der Gegend um Manchester – hatte nicht viel zu bieten. Er war gut aussehend und sympathisch. Er hatte die passende Erscheinung für seine Rolle: groß und hager, um die 40, scharfe Wangenknochen und leuchtende Augen. Er wiegte sich beim Sprechen ein wenig hin und her, und seine Robe umspielte dabei elegant seinen Oberkörper. Er hatte allerdings keine klar gegliederte Vortragsreihe geplant, sondern bat die Teilnehmer lediglich, Zettel mit Fragen in einen Korb auf der Veranda zu legen. Dann saß er vorn am Tisch, hinter dem in seliger Gelassenheit der schwarze Buddha thronte, zog einen Zettel nach dem anderen aus dem Korb und versuchte, alle zu beantworten. Was auch in Ordnung wäre, dachte Alan, wenn die Fragen halbwegs intelligent wären.

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"Viele Psychologen setzen Achtsamkeit inzwischen als Therapieform ein. Kann der Buddhismus die Psychologie bereichern? Kann Meditation ein Ersatz für Analyse sein?"

Alan konnte sich denken, dass der Verfasser dieser Frage derselbe Mann sein musste, der morgens so lang brauchte, um das Bad zu putzen. Er war recht klein und energisch, mit dicht gelocktem Haar und einem verklemmt-intellektuellen Gesicht. Er verbeugte sich nicht vor dem Buddha, wenn er sich zur Meditation einfand, und chantete auch nicht mit. Er hielt sich abseits, dachte Alan. Er war aus intellektuellen Gründen da, um zu beobachten – nicht, um selbst etwas zu riskieren. Madewelas Antwort war so lang und nichtssagend, dass man unmöglich folgen konnte. Nur ganz am Schluss merkte er an, dass man, wenn man eine Krise durchmache und einen Analytiker brauche, eben eine Analytiker brauche und fertig. Alan war ganz seiner Meinung. Er erinnerte sich nur zu gut an diesen Punkt in seinem eigenen Leben. Ihm fiel auf, dass Amanda, die noch nie einen Analytiker gebraucht hatte und vermutlich nie brauchen würde, Madewela hoch konzentriert zuhörte.

Der Mönch zog eine neue Frage.

"Bei meinem ersten Retreat habe ich definitiv das erste Jhana erreicht und Vitakka sowie andere ekstatische Zustände erlebt. Aber irgendwie kann ich diese Erfahrungen nicht wiedererlangen. Was soll ich tun?"

Das war eine Angeberfrage, fand Alan – höchstwahrscheinlich kam sie von der Frau mit der orientalischen Tunika. Die Frage war kaum einer Antwort würdig. Doch Madewela gab sich stattdessen seinem eigenen Exhibitionismus hin und schwadronierte über die Fachbegriffe für diverse Formen der Ekstase. Alan konnte nur schwer stillsitzen. Bei den Meditationsstunden, wo man sich intensiv auf die Atmung und den Körper konzentrierte, war es nicht so schwierig, sich zu entspannen und die Position zu halten. Man war in Trance. Aber wenn man einem Vortrag zuhörte, wenn man mit dem Redner uneinig war, dann wurde der Geist unweigerlich aktiv und sorgte dafür, dass auch der Körper sich bewegen wollte. Alan sah, dass die Mönche sowie ein paar der erfahreneren Teilnehmer ihre Augen während der Vortragsrunden geschlossen hielten. Sie saßen ruhig und ausdruckslos da, als gäbe es nichts zu hören und als wäre es nur eine weitere Meditationsstunde. Irgendwie war das beneidenswert. Andererseits, welchen Sinn hatte denn ein Vortrag, wenn man nicht zuhörte und mitdachte?

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Amanda wechselte wie er immer wieder die Position, verlagerte die Beine von Seite zu Seite, während sie Madewela lauschte. Als sie ihre Beine nach rechts zog und sich etwas nach links drehen musste, konnte er sie im Halbprofil sehen. Sie war völlig vertieft. Denn ganz unabhängig vom Inhalt hatte Madewelas Art etwas Charmantes und sogar sehr Schönes. Hypnotisch, irgendwie. Er hypnotisiert sich selbst, dachte Alan, mit seinem eigenen stillen Charme. Der Mönch sprach wieder so lange, dass keine Zeit für die Frage blieb, die Alan geschrieben hatte. Der Abend endete mit den üblichen Chants und der Zettel blieb unbeantwortet im Korb liegen.

Doch am fünften Abend, als Alan die Hoffnung und sogar das Interesse verloren hatte, kam seine Frage dran.

"Warum sollen wir im Schneidersitz bleiben, selbst wenn wir Schmerzen haben?", las Madewela vor. In seiner Stimme schwang vielleicht ein wenig Ironie mit. "Was steht auf dem Spiel, wenn wir das tun oder uns dagegen entscheiden?"

"Nun", begann der Mönch mit einem trockenen Lächeln, "viele von euch haben sich im Laufe der Woche von ihren Kissen auf die Stühle gesetzt. Andere sind im Schneidersitz auf dem Kissen geblieben, also fällt euch das wohl leicht – oder ihr seid Hardliner!"

Alan gefiel der Ton nicht. Er fragte sich, ob Amanda erkennen würde, dass die Frage seine war, und dass diese Frage um einiges besser war als die bisher gestellten. Eine Frage, die auf den Kern dessen abzielte, warum sie alle hier waren, worum es bei dieser Erfahrung eigentlich ging.

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Nach ein wenig obligatorischem Geschwafel über den Unterschied zwischen ernsthaften physischen Problemen und einfachen Schmerzen vom langen Stillsitzen sagte Madewela wenigstens etwas Interessantes. Sogar zwei interessante Dinge: "Wenn ihr den Schmerz still und vorsichtig wahrnehmt, ohne Energie hineinzustecken, stellt ihr vielleicht fest, dass es doch nicht so schmerzhaft ist. Ihr kommt damit klar. Und dann könnt ihr euch fragen: Warum gehe ich davon aus, dass ich mich immer perfekt wohlfühlen muss? Wenn wir nicht auch ein wenig Unbehagen akzeptieren können, wie können wir dann jemals hoffen, wahre Ruhe und Gelassenheit zu lernen? Dann bleiben wir doch nur wieder in Bewegung, weil wir versuchen, es bequem zu haben."

***

Am Morgen des sechsten Tages geriet Alan in die größte Versuchung, das Schweigegelübde zu brechen. Es war sogar ein kleines Wunder, dass es nicht passierte. Teilnehmern des Retreats war es nicht erlaubt, Material zu lesen, das sie von zu Hause mitgebracht hatten. Keine Romane, keine Zeitschriften. Doch sie konnten sich Bücher aus der kleinen Bibliothek des Klosters nehmen. Es gab dort nur Bücher über Buddhismus. Manche davon waren Ausgaben uralter Schriften, doch hauptsächlich handelte es sich um moderne Memoiren und trendige Achtsamkeitsratgeber. Die Leute suchten sich in der Bibliothek ein Buch aus und nahmen es mit in den Wintergarten. Er war sonnig und geschützt, an der Südseite des Hauses, und damit der wärmste Aufenthaltsort, wenn man nicht gerade meditierte oder auf den unbefestigten Pfaden durch die Hügel streifte.

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Alan hatte beschlossen, während des Retreats überhaupt nicht zu lesen. Er wollte seinen Geist so weit wie möglich von Gedanken und wortreichen Überlegungen frei halten. Doch er liebte es, im Wintergarten zu sitzen. Da er nur so schlecht schlafen konnte, ging er besonders gern frühmorgens dorthin, noch bevor der Gong um fünf erklang. Er holte sich eine Tasse Tee aus der Küche und setzte sich in einen Rattanstuhl, um zuzusehen, wie ein neuer Sommertag anbrach. Es war ein wunderschöner Tagesabschnitt, bei dem er ganz allein war, sein Geist und die Welt völlig ruhig, vielleicht bis auf einen Igel, der manchmal in dem kleinen Steingarten vor dem Fenster auftauchte. Das kleine Tier bewegte sich schnell und verstohlen, dann ließ es sich ein Weilchen nieder. Bewegte sich wieder, hielt wieder inne. Was tat der Igel nur? Alan fragte sich, ob er gerade fraß, und wenn ja, was. Insekten? Seine Bewegungen wirkten zugleich anmutig und feierlich, erfüllt vom Pathos eines intensiven Tierlebens. "Mögen alle Wesen der Welt glücklich sein", murmelte Alan. "Mögen alle Wesen von Glück erfüllt sein, und von Glück über das Glück Anderer." Das Tier stand still und blickte sich misstrauisch um. "Mögen alle Wesen der Welt frei von Bindungen sein. Mögen alle Wesen der Welt frei sein."

Die alte buddhistische Formel, die ihm bisher immer recht vage und naiv erschienen war, leuchtete ihm plötzlich völlig ein, als er in der sommerlichen Morgendämmerung dem schleichenden Igel zusah. Für einen Augenblick fühlte er sich voller Freude und Mitgefühl für das Tier. Doch noch bevor seine Worte verklungen waren, betrat jemand den Raum. Genauer gesagt verrückte jemand, der sich bereits im Raum befand, einen Stuhl und setzte sich. Er drehte sich um und es war Amanda.

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Sie musste ihn bereits gesehen haben, bevor sie ihren Stuhl in Position gebracht hatte, doch sie hielt sich sofort ein Buch vors Gesicht. Selbst unter den besten Umständen war Amanda weit davon entfernt, eine Frühaufsteherin zu sein, also ging Alan davon aus, dass sie schlecht geschlafen hatte. Sofort wollte er sie fragen, was los sei. Er wollte ihr zeigen, dass es ihn kümmerte, wie es ihr ging. Er wollte den Igel mit ihr teilen und ihr von seiner Freude erzählen. Er wollte mit ihr Madewelas Überlegungen zum Thema Schmerz besprechen, denn etwas Tiefgründigeres hatte er die ganze Woche nicht gehört. Wir dürfen nicht erwarten, uns immer perfekt wohlzufühlen. Und als er sie im fahlen Morgenlicht quer durch den Wintergarten ansah, wollte er vor allem sagen: "Morgen ist der letzte Tag, Liebes. Morgen Abend liegen wir einander wieder in den Armen." Dann würden sie den Zug nach London nehmen, ihre Hochzeit feiern und nach Rio fliegen. Glück.

Doch Amanda strahlte still etwas Abweisendes aus. Anscheinend wollte sie das Edle Schweigen bis zum Ende einhalten. Sie las ein Buch namens Ein stiller Waldteich und runzelte vor Konzentration die Stirn. Eine Viertelstunde lang, während das Tageslicht stärker wurde und das Gold in ihrem Haar und das Blau ihrer Augen zum Leben erweckte, saß Alan da und beobachtete seine zukünftige Frau auf der anderen Seite des Wintergartens, und wieder hatte er das Gefühl, sie gar nicht wirklich zu kennen. Schließlich kam ein weiterer Retreat-Besucher herein, setzte sich zwischen sie und schlürfte ein bisschen zu laut aus seiner Teetasse.

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***

"Ist es jemals möglich, frei von allen Bindungen zu sein?" Alan hatte seinen Namen in die Liste derer eingetragen, die ein Gespräch mit Madewela wünschten. Er war einer von zwölf Namen – Amandas stand nicht darunter – und sein Termin war nach dem Mittagessen am sechsten Tag, in der kleinen Bibliothek. Ein Schildchen hing außen am Türknauf: Kein Zutritt, laufendes Gespräch. Sobald sie Platz genommen hatten, erklärte Alan dem Mönch in der orangenen Robe, dass er nicht verstehe, wie es möglich sei, alle Bindungen zu lösen. Er sprach zum ersten Mal in einer Woche und seine Stimme war ungewohnt rau und leise. Er habe im Laufe der Jahre schon einige Retreats besucht, sagte er, und schätze immer wieder die Stille und die Konzentration. Er fühle sich zu einer echteren, tieferen Lebensweise hingezogen. Diese Erfahrungen hätten ihm auf jeden Fall durch eine schmerzhafte Scheidung ge-holfen. Doch er bezweifle, dass es ihm jemals möglich sein werde, frei von allen Bindungen zu sein. Leben bedeute, Bindungen einzugehen.

Madewela lehnte sich in seinem ramponierten Sessel zurück, fröhlich und sachlich zugleich.

"Der Weg ist kein leichter", sagte er. "Wir sprechen hier von Jahren der Hingabe."

"Aber hast du das Gefühl, dass du diesen Zustand erreicht hast?", fragte Alan. "Zum Beispiel?"

"Wir sind nicht hier, um meine Situation zu besprechen", erwiderte Madewela sanft, "und erst recht nicht, was ich mir einbilde oder annehme, vielleicht erreicht oder nicht erreicht zu haben."

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Plötzlich fühlte Alan sich frustriert, wütend sogar. Warum hatte er an diesem Retreat teilgenommen? Warum war es ihm so wichtig erschienen, dass Amanda mitkam? "Aber glaubst du, wenn man sich nicht von den Bindungen löst, kommt das Karma nach dem Tod auf einen zurück und man reinkarniert als etwas anderes? Jemand anderes?"

Madewela entging nicht, dass die Stimmung umgeschlagen war. Er lehnte sich in seiner orange-braunen Robe vor und sah Alan für einen langen Moment tief in die Augen. "Ja", sagte er schließlich. "Ja, ich bin sicher, dass es so ist."

***

Am Ende der Morgenmeditation am siebten Tag wurde das Schweigegelübde gelöst. Doch die Teilnehmer mussten noch zusammen Mittag essen. Alle wollten miteinander reden. Es hatte sich so viel soziale Energie angestaut, die nun auf einen Schlag freigesetzt wurde. Es war kein Raum für einen ernsten Austausch zwischen Alan und Amanda.

"Alles gut?", fragte er besorgt, als sie kurz neben ihm auftauchte.

"Bestens", lächelte sie. "Bei dir?"

"Gut, ja", sagte er. "Nicht zu viele Schmerzen?"

"Jede Menge." Ihr Lächeln wurde ein wenig schief. "Aber irgendwie hat mir das nichts ausgemacht."

Sie gingen zum Mittagessen. Es gab eine kurze Rückkehr zum Schweigen, während die Mönche chanteten und ihr Verbeugungstamtam vollführten. Danach aßen sie getrennt und unterhielten sich mit den ganzen Leuten, die sie die Woche über schweigend umgeben hatten und die sie nie wiedersehen würden. Alan fragte einen der Mönche nach den Kontodaten, um dem Kloster eine Spende zu überweisen.

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Erst im Zug, als das Gepäck auf der Ablage über ihnen verstaut war und sie sich gesetzt hatten, konnte Amanda ihr Herz öffnen. "Ich fühle mich ein bisschen desorientiert, Al", sagte sie.

Diese plötzliche Verletzlichkeit fand er liebenswert. "Das kann bei einem Retreat schon mal passieren", versicherte er ihr. "Das ist in ein oder zwei Tagen wieder vorbei. Keine Sorge." Die beiden saßen Seite an Seite, die Knie unangenehm nah an der Rückenlehne der Sitzreihe vor ihnen. Sie saß am Fenster und schaute weg, zu den Hügeln in der Ferne. Als er ihre Hand nahm, blieb die Hand schlaff.

Schließlich fragte er: "Was ist los, Liebes? Rede mit mir."

Amanda seufzte.

"Du hast dich jetzt nicht entschlossen, dich aus dem Leben zurückzuziehen und Buddhistin zu werden, oder?" Er versuchte zu lachen.

Sie schüttelte den Kopf, sagte aber dann: "Vielleicht ist das ja das, was du gern machen würdest, Al."

"Machst du Witze?"

Der Zug donnerte durch eine Senke. Irgendwann wandte sie sich endlich ihm zu. "Es tut mir leid, Al, aber ich glaube, ich sollte für ein paar Tage zu Mama. Ich brauche ein bisschen Zeit, um alles zu überdenken."

"Wie bitte!" Er konnte es nicht fassen. "Wir heiraten kommende Woche. Zum Empfang kommen mehr als 100 Gäste. Am Tag danach fliegen wir nach Brasilien. Alles gebucht und bezahlt."

"Ich weiß."

"Und was gibt es dann, was du überdenken musst?"

Sie zögerte. "Ich hab' dich auf dem Retreat viel beobachtet."

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"Du hast mich doch kaum angeschaut", widersprach er.

Jetzt lächelte sie. Sie wirkte wieder mehr wie sie selbst. "Nimm's mir nicht übel, Al. Ich saß direkt vor dir. Ich konnte deine Anwesenheit spüren. Jedes Mal wenn ich in den Meditationsraum kam, saßt du schon mit geschlossenen Augen an deinem Platz. Jedes Mal wenn ich ging, bliebst du nach dem Gong noch sitzen. Jedes Mal wenn gechantet wurde, konnte ich hören, wie du kurz mitmachst und dann aufhörst." Sie seufzte. "Ich habe dein Missfallen gespürt."

"Die englischen Texte waren aber auch ganz schön lächerlich, oder?"

"Doch, ein bisschen."

"Sie waren schrecklich."

"Aber die Leute haben es aufrichtig gemeint."

Alan bekam langsam immer mehr Angst. "Ja, und?"

"In der Mittagsschlange hast du geschnauft und geschnaubt."

"Die Leute haben sich zu viel Essen genommen."

Sie lächelte. "Ja, das haben sie."

"Na, also. Da hast du's."

"Und bei den Vorträgen abends hast du auch geschnauft und geschnaubt."

"Du weißt, wie ich bin, wenn jemand so lange braucht, um auf den Punkt zu kommen."

"Du bist du, Alan."

"Das bin ich wohl."

Dann drehte sie sich zu ihm und nahm doch seine Hand. Sie drehte sie in ihrer um und wirkte dabei irgendwie neugierig, als sähe sie seine Hand zum ersten Mal. Alan wartete.

"Es war sehr schön", sagte sie leise, "so viele Stunden schweigend dazusitzen."

"Das war es. Deswegen macht man ja auch einen Retreat."

"Aber je schöner es war, desto mehr hatte ich das Gefühl, dass sich zwischen uns eine Distanz auftut."

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"Eine Distanz?"

Sie seufzte wieder. Der Zug lehnte sich in eine Kurve und ein Kleinstadtbahnhof schoss vorbei. Alan versuchte, sich an die Situation anzupassen. Er durfte sie nicht einfach plattwalzen.

"Ich glaube, ich weiß, was du sagen willst", räumte er ein. "Ich habe es auch hier und da gespürt. Dass du weit weg bist. Das muss wohl eine Art natürliche Reaktion darauf sein, wenn man Zeit zusammen verbringt, ohne jemals miteinander zu reden."

"Ich bekam langsam den Eindruck, dass zwischen uns eine Art Gewässer liegt", fuhr sie fort. "Ein weiter, ruhiger See, und wir standen an gegenüberliegenden Ufern, mit all dem Wasser zwischen uns." Ihre Stimme klang inzwischen verträumt. "Dann, ungefähr am vierten Tag, fiel mir auf, dass ich dich gar nicht so viel bemerkte. Du warst in der Ferne ganz klein geworden. Das ging schrittweise. Und wenn ich dich dann doch bemerkte, dann war es … na ja, ein Störfaktor."

"Ein Störfaktor?", wiederholte er benommen.

"Ich habe mich gestört gefühlt, ja."

"Von mir."

"Es tut mir leid, Al, so hat es sich eben angefühlt." Wieder seufzte sie. "Erinnerst du dich an den Morgen im Wintergarten? Dich da schon sitzen zu sehen, als ich reinkam … es fühlte sich an wie eine Last. Ich wollte nicht, dass du da bist."

"Und dann?" Seine Stimme war heiser.

"Ich weiß nicht. Ich schätze, ich habe mich gefragt, ob ich dich wirklich liebe."

Das war zu viel. Alan war außer sich. Er schoss aus seinem Sitz hoch und ging mit schnellen Schritten durch den Zug. Überall lachten die Leute und tippten auf ihren Handys, schauten Filme auf ihren Laptops oder halfen Kindern mit ihren Puzzlespielen und Malbüchern. Es war Urlaubssaison. Der Zug wackelte und ratterte. Glückliche Menschen schienen die Norm zu sein. Nur er war verzweifelt. Nur er fühlte sich elend. Als er von einem Wagen in den nächsten kam, fiel sein Blick auf die Notbremse. Er starrte sie eine Weile an. "Missbrauch wird bestraft", warnte sie. Schließlich fand er den Speisewagen und brachte zwei Cappuccinos zurück an ihren Platz. Vielleicht war das alles nur ein schlimmer Traum.

Und so war es dann auch. Amanda trank ihren Kaffee, rief ihre Mutter und ihre Schwester an und klagte dann darüber, wie nervig es gewesen sei, sich das Zimmer mit der Frau in der orientalischen Tunika zu teilen. "Die totale Narzisstin. Sie hat ständig in einem engen Body diese extremen Yoga-Positionen mitten im Zimmer gemacht, damit wir sie alle anschauen." Sehr bald wurde klar, dass der Moment der Krise vorüber war. Dennoch, in den folgenden Wochen und Monaten dachte Alan oft an Madewelas Rat. Von der Hochzeitsnacht über die Flitterwochen bis hin zu den langweiligen Abenden, wenn der Abwasch gemacht war und sie sich zum Fernsehen und Lesen aufs Sofa setzten … immer wieder hörte er die Worte des Mönchs: "Wenn ihr einen Schmerz stets beobachtet, ohne Energie hineinzustecken, dann stellt ihr vielleicht fest, dass er doch nicht so wichtig ist." Das Problem an der Sache war natürlich, dass dieses "Wenn" ein sehr großes Wenn war. Amanda hatte es ehrlich gemeint, als sie gesagt hatte, er habe sie belastet.

Sie hatte ihn mit Zweifel im Herzen geheiratet. Er hatte es gespürt. Und jedes Mal, wenn seine Gedanken darauf zurückkamen, gewann der Schmerz wieder die Oberhand. Er ließ sich nicht gelassen beobachten. Oder schlimmer noch: Sobald Alan diese gelassene Sichtweise gelang, begann er, sich zu fragen, ob sie ihn nicht genauso belastete wie er sie. Vielleicht hätten sie alle Bindungen abwerfen und einen anderen Weg gehen sollen – unterschiedliche Wege. Doch dieser Gedanke brachte so heftigen Schmerz mit sich, dass er plötzlich aufstehen und im Zimmer umherlaufen musste.

"Willst du doch nicht schauen?", fragte sie überrascht. Es war ihre gemeinsame Lieblingsserie. "Was ist denn?"

Alan zögerte. Er stand mitten in seinem schönen Wohnzimmer, verirrt und verloren. Ohne nachzudenken ging er zum Kühlschrank.

"Lass uns eine Flasche Wein öffnen und es uns gemütlich machen", sagte er.

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