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Sousveillance à la Suisse oder: Landschaftsportrait mit Spießer

In der Schweiz sind zwei Journalisten erfolgreich zum Gegenspionage-Angriff übergegangen und haben das Leben des Geheimdienstchefs der Eidgenossen in seinen peinlichen Details entlarvt.

Ausschnitt aus dem Pirsch-Video bis hin zu Markus Seilers Heim (via)

Dieser Tage beweist sich die Schweiz wieder einmal von seiner besten Seite und in ihrer Tradition als Vorreiter in Sachen Demokratie und Pragmatismus. Die WOZ, eine überregionale Schweizer Wochenzeitung hat auf ihre ganz eigene Art Konsequenzen aus den endlosen Überwachungsskandalen gezogen. Auf der Seite markusseiler.ch können sich Bürger von nun an über das Privatleben ihres Geheimdienstschefs informieren, frei nach dem Motto: „Und wer nichts zu befürchten hat, hat auch nichts zu verbergen“.

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Wer sich dann die Seite, unter anderem bestückt mit den bebilderten Kategorien „Meine Heimat“, „Meine Karriere“, „Meine Kirche“ ansieht, der empfindet wohl eine Art befremdlichen Unbehagens: Mit Hilfe von Bildern und Überwachungsgadgets dringst du in die Intimssphäre des bemerkenswert unscheinbaren schweizer „Oberspions“ ein. Du erfährst, dass er neulich den Gottesdienst geschwänzt hat, und dass er sich seine heutige Position durch eine steile Beamtenkarriere ergattert hat . Man sieht ihn auf Kinderfotos bei Hochzeiten, darf einen Blick auf sein beschauliches und patriotisch beflaggtes Privatgrundstück im Schweizer Spiez werfen.

Eine Art Fremdschämen überkommt einen dann, wenn man dazu den Artikel der WOZ liest, in dem in bester Tradition bürgerlicher schweizer Groteske, die Journalisten der Zeitung das Privatleben des braven Beamten ausspähen. Fast tut er einem dann Leid, der gute Herr Seiler. Dennoch darf man darüber nicht vergessen, dass die Journalisten auf diese Weise unseren Gesellschaften einen Dienst tun, der Beispielcharakter haben sollte.

Die Aktion ist pädagogisch wertvoll in zweierlei Hinsicht: Zum einen erinnert die Jagd daran, dass die Überschreitung der Privatsphäre durch den Staat inzwischen vollkommen banalisiert worden ist, danke einer weitgehenden Abwesenheit von Konsequenzen durch den Snowdenskandal. Mag die Aktion der Journalisten bis zur Peinlichkeit einschneidend und persönlichkeitsverletzend sein, an die Praktiken der Geheimdienste kommt sie lange nicht heran. Diesen ist es heutzutage möglich, mit der Hilfe mächtiger Suchmasken, wesentlich intimere Informationen sekundenschnell abzugreifen. Man denke hierbei auch an LOVEINT und an die Pornogewohnheiten von ‚Radikalisierern‘.

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Noch dazu wird verdeutlicht, wie sich wohl die Leben von Aktivisten anfühlen, die ebenso persönlich überwacht werden, wie zum Beispiel im Falle des Netzaktivisten Jacob Appelbaum oder im Falle des Berliner Soziologen Andrej Holm. Natürlich mit der Einschränkung, dass die Beamten hier nicht vor der Tür haltmachen, dass die Überwachung mit der Drohung von staatlicher Gewalt verbunden ist, und dass die Überwachung über mehrere Monate, ja sogar Jahre anhalten kann. All dies im kleinen aber merklichen Gegensatz zu den schweizerischen Journalisten.

Zum anderen ist die Aktion ein gewaltiger Hoffnungsschimmer, der dem Überwachungsstaat seine eigene Medizin verabreicht. Die geschickte Kontextualisierung der Journalisten verwendet die Argumente der Kontrollgesellschaft und das Legitimationscredo „wer nichts zu verbergen hat, hat auch nichts zu befürchten“. Sie reiht sich ein in eine generelle Praxis von Sousveillance oder Unterwachung bei der Bürger oder Journalisten die Asymmetrie staatlicher Spionage auf den Kopf stellen, indem sie die Kameras auf die Überwacher selbst richten.

Der geheime alles-sehende Zauberer ist angreifbarer als du denkst!

Sie zeigen damit vor allem auch die Verwundbarkeit des Staates, der sich in der Wahrnehmung des Unterwachers von einer allmächtigen und allgegenwärtigen Überwachungsstruktur zum gut organisierten Zusammenspiel einiger weniger Individuen wandelt: Gleich dem Zauberer von Oz enblösst sich das düstere Spektakel des angsteinflößenden Geheimdienststaats als schmallippiger Biedermann, der von seiner eigenen Unsichtbarkeit und seiner anonymen Drohgebärde profitiert. In der Logik der Unterwachung zerbricht der Staat als kognitive Einheit und wird wieder greifbar als rechenschaftsfähiges Individuum, welches persönlich zur Verantwortung gezogen werden kann und muss.

Wir alle soltten dem Beispiel der Schweizer uneingeschränkt folgen. Ran an die Kameras gegen die Überwacher, d.h. zumindest solange es noch geht: In den USA, Vorreiter in Sachen Überwachung, werden inzwischen in einigen Staaten Gesetzgebungen erlassen, nach denen das Filmen von Autoritäten mit bis zu 15 Jahre Gefängnis bestraft werden kann. Enthüllungsvideos wie die Polizeigewalt gegen Rodney King, die 1992 in Los Angeles zu schweren Unruhen führten, die aber gleichsam zu einem Meilenstein der Bürgerrechtsbewegung geworden sind, wären unter diesen Umständen natürlich nie zu Stande gekommen.