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Bild: Chris Kindred | Motherboard

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Diese Anarchisten stellen lebenswichtige Medikamente her, die sonst hunderte Euro kosten

Das Kollektiv produziert im DIY-Labor Pillen für wenige Cent, die in der Apotheke extrem teuer sind. Die Anleitungen veröffentlichen sie im Internet, obwohl die Medikamente nicht ganz legal und potenziell gefährlich sind.

Das erste Mal treffe ich Michael Laufer, als er gerade Medikamente im Wert von mehreren Tausend Euro in das Publikum einer Hacker-Konferenz schleudert. "Hatte irgendwer hier schon mal einen allergischen Schock und keinen Zugang zu Epinephrin?", fragt Laufer das Publikum auf der amerikanischen Konferenz Hackers on Planet Earth (HOPE). Ein paar Zuschauende melden sich, woraufhin Laufer einem von ihnen einen EpiPen in die Hand drückt, einen Autoinjektor für möglicherweise lebensrettendes Epinephrin. Den Injektor haben er und sein Team selbst produziert. "Das ist einer unserer ersten", sagt er. "Nutze ihn weise."

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Anschließend spricht Laufer über Martin Shkreli, der den Preis für Daraprim, ein überlebenswichtiges HIV-Medikament, von umgerechnet 11 Euro auf 645 Euro angehoben hat. "Das ist jetzt zwei Jahre her, aber es hat sich nichts geändert", sagt er. Dann greift er in seine Tasche und zieht eine Handvoll weiße Pillen heraus. "Darum verteile ich lieber ein paar von denen hier", sagt er, während er sein DIY-Daraprim in die Menge wirft.

Mit seinem rasierten Schädel, dunklem Bart und seiner Camouflage-Jacke, sieht Laufer nicht gerade wie jemand aus, den man um medizinischen Rat fragen würde. Laufer hat keine medizinische Ausbildung und betont auch in seinem Vortrag, dass er kein Arzt sei. Doch Laufer war noch nie jemand, der sich von Regeln und Konventionen aufhalten lässt. Er ist Gründungsmitglied von Four Thieves Vinegar, einem Zusammenschluss von Anarchisten und Hackern, die Technologien und Anleitungen für DIY-Medikamente entwickeln.

In den letzten zehn Jahren haben sich Laufer und sein Team mit den Großen und Mächtigen der Pharmaindustrie angelegt. Denn sie zeigen, dass Medikamente auch für den Bruchteil des Preises hergestellt werden können, für den sie an Patienten verkauft werden.

Lebensrettende Medikamente aus dem DIY-Labor für wenige Cents

In den USA zahlen Patienten für einen EpiPen in der Apotheke umgerechnet zwischen 130 und 260 Euro. Deswegen gibt es Menschen, die dringend einen EpiPen benötigen, ihn sich aber nicht leisten können. In Deutschland kostet der verschreibungspflichtige Fastjekt, das Pendant zum Epipen, knapp hundert Euro von denen Patienten etwa 10 Euro zuzahlen müssen. Als Reaktion auf diesen Missstand in den USA hat Four Thieves die Anleitung für einen DIY-EpiPen im Internet veröffentlicht, der für rund 26 Euro mit frei käuflichen Teilen gebaut werden kann. Eine Füllung für den selbstgebastelten Pen kostet umgerechnet sogar nur 2,50 Euro. Als Shkreli den Preis für das HIV-Medikament Daraprim auf 645 Euro pro Tablette anhob, entwickelten Four Thieves ein tragbares Chemielabor, das MicroLab, mit dem jeder Daraprim für 22 Cent das Stück herstellen kann.

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Mit ihrem MicroLab konnten Four Thieves nach eigenen Angaben bereits fünf unterschiedliche Pharmazeutika erfolgreich synthetisieren. Das MicroLab ist eine Miniaturnachbildung einer teuren Maschine, die sonst in Chemie-Labors zu finden ist. Four Thieves haben sie für einen Bruchteil des Originalpreises aus frei verfügbaren Teilen nachgebaut. Das MicroLab besteht größtenteils aus Einmachgläsern in verschiedenen Größen und einem Deckel aus dem 3D-Drucker, dessen Anleitung online verfügbar ist. Ergänzt wird das Mini-Labor mit ein paar Plastikschläuchen, einem wenige Euro teuren Thermistor zur Temperaturkontrolle sowie einem kleinen Computer im Wert von etwa 26 Euro, um die Prozesse zu steuern.

Bisher haben Four Thieves mit ihrer Vorrichtung unter anderem Mifepristone und Misoprostol produziert, zwei Chemikalien, die für Schwangerschaftsabbrüche genutzt werden. Außerdem haben sie Naloxon hergestellt, ein Medikament, das einer Überdosis mit Opiaten vorbeugen kann.

Bisher ist jedoch nur die Anleitung für das HIV-Medikament Daraprim auf der Website des Kollektivs zum Download verfügbar. Das liegt zum Teil daran, dass einige Moleküle für Medikamente leichter zu erzeugen sind als andere. Die Produktion von Naloxon ist eine besondere Herausforderung, da das Gegenmittel gegen Überdosen dieselben chemischen Vorprodukte hat wie die Drogen selbst. Diese Vorprodukte werden in den USA von der Regierung streng kontrolliert und nur in kleinen Mengen an zertifizierte Labore abgegeben.

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Das zwang Four Thieves zu einem unorthodoxen Umweg: Denn es war für die Forschenden wesentlich einfacher, an die Droge Oxycontin zu gelangen. Durch chemische Reaktionen gelang es Four Thieves schließlich, die nötigen Vorstoffe aus den Drogen zu extrahieren, um daraus Naloxon herzustellen.

Four Thieves Vinegar agieren am Rande der Illegalität

Das Four Thieves Vinegar Collective spielt ein riskantes Spiel, denn sie müssen ständig damit rechnen, von Pharmakonzernen verklagt zu werden. Wenn ein Pharmaunternehmen ein neues Medikament entwickelt, besitzt es meist nicht nur das Patent auf das Medikament sondern auch auf die Wirkstoffe, die das Medikament wirksam machen. In vielen Fällen können Laufer und seine Kolleginnen diese Bausteine jedoch reproduzieren, weil sie in Patentanträgen oder in wissenschaftlichen Artikeln aufgelistet werden.

Den Vorwurf, dass er mit seinem Vorgehen das geistige Eigentum anderer Leute stiehlt, lässt Laufer nicht gelten: "Wenn man dieser Argumentation folgt, dann müsste es Mord sein, wenn man Informationen über lebensrettende Medikamente hat, sie aber zurückhält." Er meint, dass es von einem moralischen Standpunkt aus nicht nur gerechtfertigt, sondern sogar notwendig sei, zu stehlen, wenn sich dadurch verhindern lasse, dass jemand stirbt.

"Ja, wir ermutigen Menschen dazu, gegen das Gesetz zu verstoßen", fügt er hinzu. "Wenn du sterbenskrank bist und man gibt dir nicht die Medizin, die dich retten könnte – würdest du dann lieber das Gesetz brechen und leben oder ein braver Bürger sein und sterben?"

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Drogenlabore inspirierten die Bewegung

Die Idee für das Four Thieves Vinegar Collective hatte Laufer, als er 2008 als Student nach El Salvador reiste. Bei dem Besuch einer Klinik in einer ländlichen Gegend erfuhr er, dass in der Klinik seit Monaten keine Anti-Baby-Pillen mehr verfügbar waren. Auch das Krankenhaus in San Salvador, dass die Klinik um Hilfe bat, hatte das Verhütungsmittel nicht mehr vorrätig. Es habe ihn sehr überrascht, dass es den Kliniken an Anti-Baby-Pillen mangelte, obwohl diese relativ einfach zu produzieren seien, erinnert sich Laufer im Gespräch mit Motherboard. Er dachte sich: Wenn Drogendealer in der Lage sind, Drogen in geheimen Laboren zu erstellen, müsste dasselbe doch auch mit Medikamenten möglich sein.

Laufer gründete das Kollektiv kurz nachdem er in die USA zurückkehrte, doch trat erstmals 2016 bei der HOPE-Konferenz öffentlich in Erscheinung. Anfangs arbeitete Laufer fast ausschließlich alleine. Inzwischen ist die Gruppe stark gewachsen, auch wenn Laufer die tatsächliche Mitgliederzahl nicht benennen kann – die Mitglieder kommen und gehen nach Belieben und steuern so viel Zeit und Wissen bei, wie sie können.

Keine der Personen, mit denen ich bei Four Thieves gesprochen habe, kommt aus der Medizin. Laufer beispielsweise hat Kernphysik studiert und leitet das Mathematikprogramm am Menlo College im Silicon Valley. Inzwischen gibt es im Kollektiv unabhängige Teams für Biologie, Chemie, Datenverarbeitung, Programmierung und Hardware.

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Obwohl Four Thieves nichts verkaufen, konzentrieren sie sich auf zwei "Produktgruppen". Die Erste ist Open-Source-Hardware wie der Epipencil oder das MicroLab, die aus frei käuflichen Teilen und Komponenten aus dem 3D-Drucker gebaut werden können. Die Zweite sind die Anleitungen, wie man mit diesen Tools Medikamente produzieren kann.

"Es ist eine absolute Notwendigkeit, dass die Informationen, wie man Medikamente selbst herstellen kann, für jeden leicht zugänglich sind", sagt Laufer im Gespräch mit Motherboard.

Michael Laufer zeigt den DIY-EpiPen.

Michael Laufer mit dem DIY-EpiPen, den das Kollektiv für rund 26 Euro produziert hat | Bild: Four Thieves Vinegar Collective

Experten halten DIY-Medikamente für gefährlich

Alle Medikamente und Tools, die Four Thieves bis jetzt entwickelt hat, haben die Mitglieder der Kollektivs selbst finanziert. Die Medikamente verkaufen die Anarcho-Pharmazeutiker nicht. In den Augen der FDA, der US-amerikanischen Behörde für Lebens- und Arzneimittel, ist die Arbeit der Gruppe daher nicht direkt illegal. Trotzdem hat die Behörde öffentlich davor gewarnt, die DIY-Medikamente des Kollektivs einzunehmen. Kurz nachdem Four Thieves ihren selbstgebastelten EpiPen vorgestellt haben, warnte die FDA in einer Presseerklärung, dass "nicht genehmigte Medikamente potenziell gefährlich" seien. Auch andere Experten warnen davor, Medikamente einzunehmen, deren Herstellungsprozess nicht ausreichend überprüft wurde.

Eric Von Hippel, Ökonom am MIT, glaubt, das DIY-Medikamente viel Gutes bewirken können – aber nur, wenn sie unter bestimmten Bedingungen produziert werden. Als ein positives Beispiel nennt er ein Pilotprojekt in den Niederlanden, das die Produktion von Medikamenten erforscht, die auf einzelne Patienten maßgeschneidert werden. Diese Medikamente werden im Krankenhaus von Experten hergestellt. Von Hippel glaubt, dass es schnell gefährlich werden kann, wenn Patienten Medikamente selbst herstellen.

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"Wenn man chemische Reaktionen unter den falschen Bedingungen durchführt, können sehr leicht gefährliche Nebenprodukte entstehen", sagte Von Hippel gegenüber Motherboard. "Eine gründliche Kontrolle der Reaktionen findet bei DIY-Chemiereaktoren wie dem MicroLab von Four Thieves Vinegar Collective wahrscheinlich nicht statt."

Sein Kollege Harold DeMonaco stimmt ihm zu. "Solange das System nicht idiotensicher ist und das Endprodukt nicht automatisch überprüft wird, setzen sich Patienten vielen Gefahren aus", schrieb DeMonaco Motherboard in einer E-Mail. "Wenn sich die Tools von Four Thieves verbreiten, könnte das eine ganz neue Kategorie für die Darwin Awards schaffen."

Von Hippel bezeichnet Michael Laufers Aktionen als wegweisende Form des sozialen Aktivismus. Aber er glaubt, dass die Geräte und Prozesse noch weiterentwickelt werden müssen, bevor die Produktion von DIY-Medikamenten sicher sein wird.


Bei Motherboard: Medizin vom Meeresgrund


So wollen Four Thieves die Risiken minimieren

Four Thieves sind sich bewusst, dass ihre Anleitungen ein gewisses Risiko bergen. Es ist möglich, dass jemand die Anleitung nicht richtig befolgt und versehentlich eine giftige oder gefährliche Chemikalie erzeugt. Doch es gibt Möglichkeiten, dieses Risiko zu minimieren und darauf legen Four Thieves bei ihrer Forschung und Entwicklung viel Wert.

Wenn es verschiedene Methoden gibt, ein Molekül zu erstellen, wählen sie die, die am wenigsten Raum für Fehler zulässt. Als das Kollektiv seine Arbeit aufnahm, erhielten sie Hilfe vom Startup Chematica, das mit den Daten aus 250 Jahren chemischer Forschung eine Software entwickelt, die neue Synthesewege für Moleküle berechnet. Mit Hilfe dieser Datenbank und Chematicas Software konnten Four Thieves einfache und relativ sichere Wege entwickeln, um lebensrettende Medikamente zu produzieren.

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Im vergangenen Jahr wurde Chematica jedoch vom internationalen Pharmariesen Merck aufgekauft. Seitdem haben Four Thieves keinen Zugriff mehr auf Chematicas Software und Datenbank. Four Thieves Daten-Team konnte die Software zwar nachbauen, benötigt aber Zugriff auf die umfangreiche Datenbank, die sich nun im Besitz von Merck befindet. Allerdings hofft Laufer, bald wieder Zugriff auf die Daten zu haben – und hofft auf Hilfe aus dem Publikum. Denn Chematicas Datenbank wird momentan auf einer Passwort-geschützten Seite im Darknet gepostet. Während seines Vortrags auf der HOPE-Konferenz bat Laufer die Hackerinnen und Hacker im Saal, das Passwort zu knacken und die Daten mit der Welt zu teilen.

Nächstes Ziel: Hepatitis C besiegen

Laufer möchte sich mit Four Thieves in Zukunft auf die Produktion von Medikamenten für seltene Krankheiten konzentrieren. Denn Pharmakonzerne erachten es oft als nicht lohnenswert, Medikamente für wenige Tausend Leute auf der Welt herzustellen – Four Thieves möchte dafür sorgen, dass auch diese Patienten und Patientinnen medizinisch versorgt werden. Doch diese Medikamente bringen auch ihre eigenen Herausforderungen mit sich.

Laufer erklärt beispielsweise, dass viele Medikamente für seltene Krankheiten aus organischem Material wie Pilzen hergestellt werden. Four Thieves arbeitet nun daran eine BioTorrent-Site zu erstellen. Sie soll wie eine normale Filesharing-Plattform funktionieren, doch statt Musik und Filme könnten hier Anleitungen für Medikamente heruntergeladen werden und der Austausch von biologischen Stoffen organisiert werden. Da sich biologische Zellen selbst replizieren, müsste ein Nutzer nur genug Zellen für sich selbst produzieren und könnte einige Zellen dann an andere Nutzer verschicken, die den Vorgang wiederholen.

Four Thieves haben bereits Ideen, wie man das biologische Material sicher, günstig und unauffällig verschicken könnte. Momentan untersucht das Kollektiv, ob man Bücher und CD-Hüllen verwenden könnte, um biologische Vorprodukte zu züchten. Denn Myzellen, die die Grundlage für die meisten Pilzarten bilden, finden sich auch in Bücherseiten und CD-Hüllen haben ähnliche Eigenschaften wie Petrischalen.

In der Zwischenzeit konzentrieren sich Four Thieves vor allem darauf, ihr MicroLab zu optimieren und neue Medikamente zu synthetisieren. Das Team arbeitet daran, eine eigene Platine für das MicroLab zu entwickeln, das die Arbeit mit dem Mini-Labor vereinfachen soll. Gleichzeitig finalisieren Four Thieves ihre Reproduktion von Sovaldi, ein Medikament, das nur einmal eingenommen werden muss, um Hepatitis C zu heilen. Das Medikament ist zwar bereits seit fünf Jahren auf dem Markt, aber die Kosten von 1.000 Euro pro Pille machten es für viele Betroffene unerschwinglich. Wenn es nach Four Thieves geht, werden Erkrankungen mit Hepatitis C bald der Vergangenheit angehören – für alle Menschen, unabhängig von ihrem Einkommen.

Für Laufer geht es bei Four Thieves nicht nur um Medikamente, es geht genauso um Informationsfreiheit und persönliche Autonomie. "Du musst in der Lage sein, über deinen eigenen Körper zu bestimmen", sagt Laufer. "Es ist ein Menschenrecht, wissenschaftlich zu forschen."

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