Warum ich am letzten Tag eines Festivals immer weinen muss
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Festival Guide

Warum ich am letzten Tag eines Festivals immer weinen muss

Sind Festivaltränen ein Versuch unseres Körpers, die Sünden der letzten Tage loszuwerden – oder steckt doch mehr hinter der Kater-Melancholie?

Dieser Artikel wird präsentiert von SEAT Sounds. Er ist Teil des VICE Guides für Festivals, alle Texte findet ihr hier.

Es ist Sonntagabend, mein Körper fühlt sich wie ein abgebrannter Atomreaktor und der Geruch von tausenden von Leuten, die die letzten drei Tage damit verbracht haben komplett durchzudrehen, liegt über dem Campingplatz wie eine dicke, toxische Wolke. Doch egal, wie zerstört ich bin: Es spielt noch eine Band, auf die ich mich richtig gefreut habe, als ich das Line-up zum ersten Mal gesehen habe. Auf dem Weg zur Bühne versuche ich verzweifelt, Fäkalien und den penetranten Schweißwolken der anderen Festivalbesucher und -besucherinnen auszuweichen. Endlich habe ich es geschafft. Die Band spielt einen Song an, der Sound ist voll, laut, schön, es gibt bunte Lichter – Glückseligkeit liegt in der Luft. Und Boom: Mir kommen die Tränen. Festivaltränen.

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Man könnte mich einen Festivalmelancholiker nennen. Die Tränen kommen immer am letzten Tag eines mehrtägigen Festivals. Es passierte, als ich meine Freundinnen auf dem Lowlands verloren hatte und als eine Street Theater Performance mit Musik von Interbellum genau vor mir anfing (was ganz besonders peinlich ist, weil – sind wir mal ehrlich – niemand Street Performances mag). Es passierte in einem Zelt auf dem Melt, als vier Briten nach vier Tagen hartem Techno plötzlich anfingen, zu Gitarrenmusik zu singen. Und es passierte, als Patti Smith auf dem Glastonbury "People have the Power" spielte, während der Dalai Lama auf die Bühne seinen Geburtstagskuchen anschnitt.

Illustration von Jip Piet

Ich schäme mich für diese Momente, gleichzeitig erscheinen sie mir nur logisch: Natürlich wird man am letzten Tag eines Festivals von seinen Gefühlen überwältigt. Schließlich neigen sich die letzten Tage der absoluten Freiheit endgültig dem Ende zu, in denen man sich zu fantastischer Musik in den Armen lag, mit Wildfremden rumgeknutscht hat und von morgens bis abends betrunken war.

Am letzten Tag bist du sowohl ein physisches als auch ein psychisches Wrack

Außerdem bist du am letzten Tag sowohl ein physisches als auch ein psychisches Wrack. Der angesammelte Schlafmangel und die ineinander übergehenden Tage des Sündigens und Tanzens führen unweigerlich dazu, dass deine kleine, verwundbare Seele entblößt wird und sich alles einfach etwas intensiver anfühlt.

Dennoch ist die wahre Essenz von Festivaltränen etwas Fundamentaleres. Denke ich jedenfalls.

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Wenn du Tausende von Leuten auf einen Haufen packst und ihren erlaubst zu machen, was immer sie wollen, sind sie sich allem Anschein nach immer einig, was der lustigste Zeitvertreib ist: jede Art von Zivilisation zu vergessen. Morgens schon Bratwurst zu essen, in einer viel zu kleinen Unterhose über den Zeltplatz zu den Dixi-Klos zu laufen, in dem Graben abzuhängen, der nachts als Toilette benutzt wird, Smalltalk zu machen darüber, wer letzte Nacht mit wessen Freundin geknutscht hat und halbnackt Sachen über das Gelände zu brüllen, an die man sich am nächsten Tag schon nicht mehr erinnern kann. Dinge, die im Alltag völlig undenkbar sind, sind auf Festivals völlig normal und das macht Spaß.

Dieses bewusste Verstoßen gegen Grenzen ist ein wichtiger Teil einer Festivalerfahrung. Aber es laugt eben auch aus.

Schlussendlich siegt das Schöne über das Hässliche

Und trotzdem: In dem Moment, in dem die vergangenen Tage ihren Tribut fordern, der eigene Körper eigentlich schon aufgeben möchte – da raffen sich alle Anwesenden, mir inklusive, noch ein letztes Mal auf und kämpfen sich vor die Bühne, um ein letztes Mal die Musik zu genießen. Nicht weil sie einen Sozialkundeaufsatz darüber schreiben müssen, nicht weil ihre Mutter sie an den Ohren zu einem Konzert geschleppt hat, weil das ihrer Meinung nach zu einer guten Bildung dazugehört, sondern nur aus völlig ehrlichen Absichten heraus bezwingen sie ihren Schlafmangel. Tagelang haben wir die Sau rausgelassen und uns nach Herzenslust im Schlamm gewälzt, aber jetzt hat sich diese Horde übelriechender Neandertaler versammelt, um jemandem bei seiner künstlerischen Darbietung zuzusehen. Schlussendlich siegt also das Schöne über das Hässliche.

All das erfüllt mich mit so viel Hoffnung, dass es sich anfühlt, als würde mein Herz zerspringen. Bis sich eine einsame, glitzernde Träne ihren Weg über meine Wange bahnt. Direkt durch den angetrockneten Ketchup-Fleck, den ich schon seit Freitag im Gesicht habe.

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