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Rassismus

Im Ausland verstehen fast alle, warum Özil zurückgetreten ist

Ein Blick durch die internationale Presse zeigt: Alle wissen, dass Deutschland ein Rassismus-Problem hat.
Foto: imago | SKATA

Ja, wir wissen auch, dass euch das Thema nervt. Aber da müsst ihr jetzt durch, ernsthaft. Und wisst ihr auch wieso? Weil es eben doch wichtiger ist als die meisten anderen "Debatten", die Deutschland in den letzten Monaten so durchgenudelt hat.

Weil es schon lange nicht mehr um das dämliche Foto mit Erdoğan, sondern längst um etwas wirklich Wichtiges geht: Özils Rücktritt und die Reaktionen darauf haben gezeigt, dass Deutsche mit Migrationshintergrund immer noch gute Gründe haben, sich hier nicht wirklich zu Hause zu fühlen. Nicht wenige Deutsche ohne Migrationshintergrund fühlen sich davon dermaßen provoziert, dass sie Özil entweder zu einem schlechten Fußballspieler oder gleich für verrückt erklären – denn wie will ausgerechnet ein Deutschtürke beurteilen, ob er Rassismus erfahren hat?

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Dummerweise nimmt das den Deutschen im Ausland fast niemand ab. Ein Blick in die Presselandschaft zeigt: Unsere Nachbarn haben ziemlich genau verstanden, was der Rücktritt von Özil bedeutet.

England

"Mesut Özil ist ein großer Deutscher – und das hat nichts mit seiner Leistung zu tun", schreibt die Londoner Times. "Ich habe kaum Zweifel, dass Özils Entscheidung, sich aus dem internationalen Fußball zurückzuziehen, die schwerste seines Lebens war", schreibt der Autor, der den Fußballer ein paarmal getroffen hat.

"Seine Liebe für Deutschland war offensichtlich", geht es weiter. Aber in Deutschland gebe es – wie in Großbritannien – "einen Rest, der diese 'verdammten Ausländer' nie akzeptiert hat". Deshalb kann der Autor verstehen, "warum die Verleumdung, er sei faul, sich für ihn wie ein unterschwelliger Versuch anfühlt, die gesamte deutschtürkische Gemeinschaft zu verleumden, der so oft zu Unrecht Faulheit und mangelnder Patriotismus vorgeworfen wird. … Özil verlässt das deutsche Team nicht, weil er den Shitstorm nach der WM nicht aushält, sondern weil er ein gesellschaftliches Problem beleuchten will."

"Mesut Özils Rückzug aus dem internationalen Fußball ist das tragische Ende einer glorreichen Karriere", schreibt die Daily Mail, die sonst nicht für nachdenkliche Töne bekannt ist. "Einer der besten Mittelfeldspieler Deutschlands wurde von einem Symbol der Integration zu einer Gestalt der toxischen öffentlichen Debatte."

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"Özil ist der Inbegriff des Migranten, der nicht reinpasst", schreibt der Guardian. Seine Eltern kommen aus Zonguldak in der Türkei, er selbst ist aber in Gelsenkirchen aufgewachsen. "Er ist ein Superstar bei Arsenal, der seine Antwort auf einen deutsch-türkischen Streit auf Englisch twittert." Das traurige Ergebnis dieser Affäre betreffe nicht nur Deutschland, sondern auch die Türkei: "Indem sie von ihrer gegenseitigen Kritik zehren, um die in der Mitte zu isolieren, zeigen die Reaktionen der Hardliner auf beiden Seiten eine Symbiose. Deutschland und die Türkei ähneln sich darin, dass in beiden Ländern Ideen von 'Rasse' und 'Blut' weiterhin die Nation definieren."

Türkei

Dass die türkischen Medien voll auf Özils Seite stehen, ist natürlich keine große Überraschung. Entweder sie tun es, weil sie als Staatsmedien Erdoğgans Kampagne unterstützen, die Sache auszuschlachten. Die regierungsnahe Habertürk zum Beispiel fordert gleich eine offizielle Entschuldigung Deutschlands bei Özil.

Oder sie tun es, weil sie es einfach scheiße finden, wie Özil in Deutschland behandelt wird. "Mesut Özil hat das schönste Tor gegen den Rassismus geschossen", schreibt die eher regierungskritische Sabah. Özil habe die zunehmende Migranten-Feindlichkeit kritisiert und dem "rassistischen Gesicht" des Westens den Spiegel vorgehalten.

Immerhin: Der staatliche Sender TRT Spor erinnert daran, dass man "die Deutschen" nicht alle über einen Kamm scheren sollte. "Man darf nicht verallgemeinern. Das ist eine Falle des Rassismus."

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Israel

"Die Empörung über den Mittelfeldspieler türkischer Herkunft zeigt, dass Einwandererkinder ihre Wurzeln nie vergessen dürfen", schreibt die Haaretz, "vor allem, wenn die Dinge sich zum Schlechten wenden." Özil habe ein Licht auf ein paar schmerzhafte Wahrheiten geworfen, mit denen sich jeder Einwanderer und jedes Einwandererkind identifizieren kann: "Die Tatsache, dass ein Einwanderer und vor allem jemand, der Außergewöhnliches geleistet hat, immer noch von bestimmten Teilen der Gesellschaft nur aufgrund seiner Leistungen, nicht aufgrund normaler menschlicher Fairness beurteilt wird. Der 'außergewöhnliche' Einwanderer ist großartig, solange er Großartiges leistet. In dem Moment, wo er es nicht mehr tut, wird er wieder ein normaler Einwanderer, zum Abschuss freigegeben für Rassisten."

Österreich

"Es ging am Ende nicht mehr darum, dass Özil sich im türkischen Wahlkampf mit einem Autokraten fotografieren ließ, der Gegner seiner Politik einsperren lässt", schreibt der Kurier. Der Vorwurf an Özil ist jetzt eben, "kein echter Deutscher" zu sein, weil er sich nicht mit seinem Geburtsland identifiziert. "Plötzlich war Nationalismus der übelsten Sorte im Spiel, der, wie eigentlich immer, am Ende in Rassismus umschlug."

Polen

"Der Fall ist ist schockierend", schreibt die polnische Wyborcza Gazeta, "weil er einen Schatten auf das ganze deutsche Selbstbild wirft." Bei der WM 2006 in Deutschland habe es noch so gewirkt, als sei der Fußball der beste Weg, sich in der deutschen Gesellschaft zu integrieren. "Einige Jahre später hat das Team [durch den WM-Sieg] dann etwas an die multi-ethnische Gesellschaft zurückgegeben." Die Zusammensetzung des Teams von 2014 "bildete die Veränderungen ab, die in der deutschen Gesellschaft passierten, und war gleichzeitig Beweis für ihre Offenheit gegenüber Neuankömmlingen." Aber: "Özil, der den Rassismus in der Fußballwelt anspricht, hat dieses Bild zerstört."

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