Belästigen, prügeln und balzen: Das Sexismus-Problem in der Raumfahrt
9. Januar 1986. Die Crew der Challenger. Bild: flickr | CC BY 2.0

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Belästigen, prügeln und balzen: Das Sexismus-Problem in der Raumfahrt

Einen Monat lang ging alles gut, als eine weibliche Astronautin zusammen mit Kollegen auf engstem Raum in einer Raumkapsel lebte. Doch dann wurde ein russischer Kollege übergriffig.

Titelbild: 9. Januar 1986. Die Crew der Challenger | Bild: flickr | CC BY 2.0

Am 3. Dezember 1999 landete Judith Lapierre in Moskau. Die damals 32-jährige angehende Astronautin aus Kanada war in die russische Hauptstadt gereist, um zusammen mit sechs Männern 110 Tage in einer kleinen Kammer zu verbringen. Das Experiment war Teil des psychologischen Testprogramms in der Anlage Sphinx-99 (Simulation of Flight of International Crew on Space Station).

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In dem von russischen und internationalen Wissenschaftlern entwickelten Weltraumprogramm wurde in einer kleinen Kammer mit drei Räumen eine Weltraummission zum Mars simuliert. Zusammen mit einem japanischen und einem österrischischen Kollegen stieß Lapierre zur Halbzeit der Testmission zu den vier männlichen russischen Besatzungsmitgliedern hinzu, die bereits sechs Monate in der Kapsel durchgestanden hatten. Judith Lapierre war die einzige Frau an Bord und sollte schon bald erfahren, wie es ist, auf engstem Raum und unter erschwerten Bedingungen eine lange Zeit nur unter Männern zu verbringen.

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Einen ganzen Monat lang lief alles gut—bis zum 31. Dezember, als die Bewohner der Raumstation eine kleine Silvesterparty feierten. Nach russischem Brauch wurde mit zahlreichen Vodka-Shots angestoßen. Doch später am Abend kippte die gute Stimmung, als Vasily Lukyanyuk, der russische Leiter der Mission, begann, Lapierre zu bedrängen und ihr Avancen zu machen. Seine Anmache war zwar wissenschaftlich verklausuliert, aber doch unmissverständlich:

„Wir sollten uns küssen, ich habe schon seit einem halben Jahr nicht mehr geraucht", sagte er zu ihr. „Dann können wir uns nach der Mission nochmal küssen und vergleichen. Lass uns das Experiment jetzt starten." Dann versuchte er, Lapierre außer Sichtweite der zwei Kameras zu bugsieren, die die Crew und ihre Tätigkeiten ständig überwachten. Dort küsste und begrabschte er sie trotz ihres lautstarken Protests.

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Wenige Stunden zuvor war es zu einem anderen unvorhergesehenen Zwischenfall in dem Raumfahrtmodul gekommen: Kommandant Lukyanyuk und einer seiner Landsmänner waren handgreiflich geworden und aufeinander los gegangen. Der Streit soll für beide blutig geendet haben. Später sagte Lapierre zu dem Zwischenfall, dass beide wohl um ihre Aufmerksamkeit gebuhlt hätten. Nach der Schlägerei und dem sexuellen Übergriff wandte Lapierre sich hilfesuchend an die Canadian Space Agency.

Zu ihrer Überraschung reagierten die Kanadier zurückhaltend und wenig hilfreich. Ihre Kollegen bei der kanadischen Weltraumbehörde teilten ihr lediglich mit, solch ein Verhalten sei bei den Russen normal und man könnte unmöglich das Gastgeberland öffentlich kritisieren. Der japanische Kollege brach daraufhin aus Protest seinen Aufenthalt ab, Lapierre aber entschied sich zu bleiben. Nach zehn Tagen, in denen sie wiederholt um mehr Sicherheit in der Simulationsanlage gebeten hatte, stimmten die Leiter des Experiments schließlich zu und brachten Schlösser an den röhrenförmigen Zwischenräumen an, die das russische Modul Mir und das internationale Mars-Modul miteinander verbanden.

„Ich hatte gedacht, dass ich mich in besseren Hände befinden würde", sagte sie später. „Ich frage mich noch heute, ob und falls ja wie [die Russen] ihre Astronauten damals psychologisch betreuten—ich habe von ihnen auf jeden Fall keinerlei Unterstützung erfahren."

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Als die 110 Tage schließlich vorbei waren, erklärte der russische wissenschaftliche Leiter Valery Gushchin, die Schlägerei sei nur eine „freundschaftliche Rangelei" gewesen. Außerdem behauptete er, dass Lapierre „mit ihrer Weigerung, sich küssen zu lassen, die Mission und die Stimmung ruiniert hätte." Er gab jedoch immerhin auch zu, für zukünftige russische Astronauten könnte ein wenig kulturelle Sensibilisierung durchaus von Vorteil sein.

Das Gefühl der männlichen Erwartungshaltung, das Lapierre erleben musste, beschränkt sich jedoch nicht auf irdische Simulationsmissionen. Der Vorfall in der Sphinx-99 ist nur eines von mehreren Beispielen. Für die Planer der bemannten Raumfahrt stellt es außerdem eine besondere Schwierigkeit dar, ein normales menschliches Zusammenleben unter den verschärften Umständen der beengten Weltraumkapseln zu gewährleisten.

Für den Erfolg von Missionen, bei denen die Besatzungen die Erde für Monate oder Jahre verlassen und Richtung Mars fliegen oder auf Raumstationen wie der ISS leben ist es entscheidend, die Entwicklung von menschlichen Trieben und der Soziologie und Psychologie genau zu verstehen, die sich entwickeln, wenn Menschen auf solch engem Raum zusammenleben müssen. Gewalt oder Vorfälle sexueller Belästigung sind im Weltraum oder in Weltraumsimulationen genauso inakzeptabel wie auf der Erde—das besondere Problem: Wenn sich sexistisches oder gewalttätiges Verhalten einmal äußert, gibt es räumlich quasi kein Entrinnen.

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Kurz bevor Lapierre das Sphinx-Modul in Moskau betrat, sagte der Psychologe Vadim Gushin, der die Teilnehmer beobachtet hatte, gegenüber einem dänischen Reporter, dass Frauen „die Situation an Bord drastisch verbessern können, sie können die Verhältnisse zwischen den Astronauten entspannen. Oder sie ruinieren die Stimmung komplett. Es gibt nur diese beiden Optionen."

Laut Gushin funktioniere die feministische Herangehensweise nach dem Motto „ich bin gleichberechtigt und kann das, was du kannst, auch" in einer geschlossenen Umgebung einfach nicht. „Die Erwartungen an eine Frau im Team sind ganz anders. Die anderen wollen sie beschützen und ihr helfen; lassen sich sogar von ihr bemuttern. Was sie aber nicht brauchen ist ein weiterer, ebenbürtiger Partner."

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Auf einer echten Mission im All könnte das, was Lapierre passierte, noch unangenehmer ausgehen. Schließlich gibt es im Weltraum häufig keine Möglichkeit, ein irdisches Missionszentrum um Hilfe zu bitten und zumindest an der räumlichen Situation etwas zu verbessern. Was den Fall Lapierre besonders problematisch macht, ist die Tatsache, dass der Urheber der sexuellen Gewalt oder Belästigung der Leiter der Mission war.

„Hier auf der Erde ist es bereits um Gewalt gegen Frauen in der NFL und im Militär berechtigterweise ziemlich laut gewesen", sagt Dr. Marjorie Jenkins, die als Wissenschaftlerin die NASA schon bei Themen wie Gender und Sex beraten hat. Auch das Weltall wird immer mehr zu einem Ort, an dem über Sexismus diskutiert werden müsse, so Jenkins.

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„In einem System, in dem es immer wieder zu Gewalt kommt oder die Gefahr besteht, dass es zu Gewalt kommen könnte, ist es entscheidend, Verhaltensregeln festzulegen und auch anzuwenden", so Jenkins weiter. „Es ist entscheidend, die Täter mit transparenten und einheitlichen Methoden zur Verantwortung zu ziehen, um die gesellschaftliche Balance zu halten, außerdem hilft das den Opfern beim Heilungsprozess."

Ein richtiges Konzept gibt es dafür aber noch nicht wirklich. Dass überhaupt Bewegung in die Sache kommt, ist vor allem einem anderen Zwischenfall zu verdanken: Im Jahr 2007 fuhr die Astronautin Lisa Nowak fast 1.500 Kilometer weit, um die US-Luftwaffen-Kapitänin Colleen Shipman zu entführen. Nowak fand, dass sie eine Konkurrentin im Kampf um die Gunst ihres Astronauten-Kollegen Bill Oefelein sei. Nowak wurde wegen versuchter Entführung verhaftet. Erst nach diesem Vorfall führte die NASA 2008 den Astronaut Code of Conduct ein, der die Astronauten über angemessenes Verhalten sowohl im Weltall als auch auf der Erde unterrichtet.

Trotz einer spezifischen Klausel im Verhaltenskodex, die der Aufrechterhaltung „professioneller Standards der NASA-Mitarbeitern untereinander sowohl während der Arbeit als auch im sozialen Miteinander" gilt, können diese Beziehungen aus verschiedenen Gründen problematisch sein.

Vor allem das kulturelle Bild des Astronauten und der häufig damit einhergehende Machismo können zu einer angespannten Stimmung unter den Astronauten führen. Besonders männliche Astronauten sind sich der Wirkung ihrer Jobbeschreibung bewusst. All zu oft umgibt das Astronauten-Dasein, ähnlich wie der Job als Test- oder Kampfpilot, eine Aura, die den Protagonisten zu begehrten Objekten in der Frauenwelt macht—ein Umstand, der wiederum arrogantes oder übergriffiges Verhalten fördern kann.

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In seinen Memoiren Riding Rockets beschreibt der ehemalige NASA Astronaut Mike Mullane diese Aura folgendermaßen: „Es gab ein noch stärkeres Lockmittel als das Fliegerabzeichen: den Titel ‚Astronaut'. Wir Männer fanden uns von jungen Dingern umzingelt, deren hautenge Klamotten und verführerische Lächeln förmlich ‚nimm mich' schrien".

Ein berühmtes Beispiel für den Sexismus, der auch im Weltall grassieren kann lieferte die sowjetische Astronautin Svetlana Savitskaya. Sie war die zweite Frau im Weltall, als sie 1982 bei der russischen Raumstation Mir ankam. Dort wurde sie mit einer Kochschürze und spöttischem Gerede begrüßt, um klarzumachen, dass ihr Platz auf der Forschungstation in der Küche sein würde.

Die Riesenkarte aller Weltraum-Missionen seit 1959

Trotz des unfreundlichen Empfangs der anderen Astronauten machte Savitskaya ihnen sofort deutlich, dass sie sich das nicht gefallen lassen würde. Sie schaffte es, mit ihren vier männlichen Kollegen für die Dauer ihres einwöchigen Aufenthalts auf der Salyut-7 ein professionelles Arbeitsverhältnis aufzubauen.

Inzwischen entwickelt sich das Bild des übetrieben männlichen Space-Cowboys auch unter den Astronauten immer mehr zum Auslaufmodel—meint zumindest Ron Garan, der zuletzt der zuletzt im Jahr 2011 im Weltall war und insgesamt sechs Monate in der Enge einer Raumstationen im All verbracht hat.

„Dieses Stereotyp ist mittlerweile veraltet", so Ron Garan. „Die meisten der Astronauten waren und sind Alphatiere, die überambitioniert sind und trotzdem mit anderen Menschen klarkommen müssen. Wenn es ein Alphatier gibt, das nicht im Team arbeiten kann, kann es nur schief gehen."

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Ron Garan auf einem Spaziergang im Weltall; Bild: NASA

Trotz aller sozialen Herausforderungen war der Weltraum schon immer auch ein Ort des politischen Fortschritts: Besonders eindrucksvoll zeigt sich dies bei der Kooperation zwischen sowjetischen und amerikanischen Astronauten in Zeiten des Kalten Kriegs oder jüngst im Angesicht der Ukraine-Krise, aber auch in der Tatsache, dass Astronautinnen bei der NASA schon auf Missionen gehen durften, als für einen Großteil der Frauen Hausfrau und Mutter noch immer die normalsten Lebensaufgaben auf der Welt waren.

Die NASA zeigt sich dabei längst als fortschrittliche Institution. Sie bemüht sich, ein Arbeitsklima zu schaffen, das sexueller Diskriminierung keine Chance gibt. So wurden 2014 von der NASA Richtlinien erstellt, die Mitarbeitern, die sich selbst als transsexuell identifizieren, volle Unterstützung am Arbeitsplatz zusagen.

Nach dem Motto: „Je vielfältiger die Menschen, die bei der NASA arbeiten, desto größer das Potenzial für innovative Ideen" werden Akzeptanz und Toleranz groß geschrieben. In Workshops werden Mitarbeiter über Fragen, die sich im Zusammenhang mit LGBT ergeben, aufgeklärt und für die Zusammenarbeit mit Kollegen, egal welcher Orientierung, sensibilisiert. Das Johnson Space Center der NASA nimmt zudem jährlich an der Pride Parade teil.

Auch die Wissenschaftswelt wird immer wieder von Sexismus-Skandalen erschüttert. Insofern spiegelt die Wissenschaft genauso wie die Raumfahrt nur die gesamtgesellschaftlichen Probleme im Umgang mit Sexismus wieder. Gleichzeitig kann die Raumfahrt auch ein Vorbild für die Gesellschaft sein und viele kleine Schritte könnten bei einem sehr irdischen Problem dabei helfen, endlich den großen Schritt der Gleichberechtigung aller Menschen auf der Erde zu erreichen.