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Auf digitaler Spurensuche nach Abu Umar

Die Staatschefs der G20 wollen verstärkt gegen IS-Propaganda im Netz vorgehen. Damit meinen sie auch Terroristen wie den flüchtigen mutmaßlichen Drahtzieher der Pariser Anschläge.
Abu Umar verschantzt sich bei einem Angriff. Der Screenshot statt ursprünglich aus einem IS-Video und wurde von der Dokumentationsseite MEMRI TV veröffentlicht.

Update 19.11., 14:00: Die Pariser Staatsanwaltschaft teilte mit, dass Abdelhamid Abaaoud bei der Polizeiaktion nördlich von Paris am Mittwoch getötet wurde. Sein Leichnam wurde anhand seiner Fingerabdrücke identifiziert. Weiterhin starb eine Frau bei dem Einsatz in der Wohnung, die sich mit einem Sprengstoffgürtel tötete.

Update 18.11., 18:30: Der Anti-Terror-Einsatz im Stadtviertel Saint-Denis im Norden von Paris ist nach mehr als sieben Stunden beendet worden. Laut Polizeiangaben hat der Einsatz von 4:30 - 11:50 Uhr angedauert. Der für Terrorismus zuständige oberste Staatsanwalt François Molins hat bestätigt, dass sich der Einsatz gegen den mutmaßlichen Drahtzieher Abdelhamid Abaaoud richtete. Sieben Personen wurden festgenommen, zwei starben beim Einsatz der Spezialeinsatzkräfte. Die Identität dieser Personen ist laut Molins noch nicht geklärt und wird noch einige Zeit in Anspruch nehmen.

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Abgehörte Telefongespräche und Zeugenaussagen hätten die französischen Ermittler auf die Spur der kleinen Zelle gebracht. Daraus hätten sich Hinweise ergeben, dass der mutmaßliche Kopf hinter den Anschlägen von Paris sich in der Wohnung versteckt halten könnte, so der oberste Staatsanwalt Molins. Als die Spezialeinsatzkräfte die Wohnung stürmten, sprengte sich eine Frau selbst in die Luft. Unbestätigten Medienberichten zufolge soll es sich dabei um eine Cousine von Abaaoud handeln.

Update 18.11., 10:30: Im Pariser Stadtteil Saint-Denis gibt es derzeit einen Großeinsatz der Polizei. Polizeikräfte vermuten, dass der gesuchte Abdelhamid Abaaoud, der unter dem Kampfnamen Abu Umar auftritt, sich dort in einer Wohnung verschanzt. Bei dem Einsatz sollen laut Agentur-Meldungen drei mutmaßliche Terroristen getötet und drei festgenommen worden sein. Reporter vor Ort berichten von mehreren Detonationen und Schusswechsel. Ob Abdelhamid Abaaoud unter den Toten oder Festgenommenen ist, ist bislang unklar.

Das Ausmaß der Terroranschläge am Freitagabend in Paris ist erschütternd. Mindestens 132 Menschen Tote und 350 Verletzte. „Eine Attacke gegen Europa als Ganzes", hieß in einer kürzlich veröffentlichten Erklärung verschiedener europäischer Politiker. Die französische Luftwaffe hat schon am Sonntagabend begonnen, Ziele des Islamischen Staates in Syrien unter Beschuss zu nehmen.

In der Türkei einigten sich die Staatschefs der G20 am Montag darauf, bei der Terrorbekämpfung über militärische Maßnahmen hinauszugehen: Die internationale Zusammenarbeit der Geheimdienste im Kampf gegen den Terrorismus soll ausgebaut werden und es soll außerdem stärker gegen die Terrorpropaganda vorgegangen werden, die sich im Internet rasant verbreitet. Bereits in der Vergangenheit hatte die EU-Kommission erklärt, wie solche Maßnahmen aussehen könnten: Neben der schnellen Löschung von Material, das gegen die Grundrechte verstößt, setzte man damals auf „positive Botschaften", die von dem 2011 gegründeten „Radicalization Awareness Network" (RAN) entwickelt werden sollten.

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Der mutmaßliche Kopf hinter den Anschlägen von Paris ist auf Bildern und Videos im Netz zu finden, was abermals unter Beweis stellt, wie weit sich die terroristische Ideologie des IS im Internet ausgebreitet hat. Die Botschaften des gesuchten Terroristen Abdelhamid Abaaoud finden sich in sozialen Netzwerken und auf den Kanälen des IS.

Warum konnten die Geheimdienste die Anschläge von Paris trotz strenger Überwachungsgesetze nicht verhindern?

Derzeit scheint es so, als sei der Belgier Abaaoud maßgeblich an der Planung der Attentate in Paris beteiligt gewesen. Er ist knapp dreißig Jahre alt, laut Polizeiangaben mit marokkanischen Wurzeln und wuchs im Stadtteil Molenbeek in Brüssel auf. Immer wieder meldete er sich aus Syrien im vergangenen Jahr zu Wort und soll maßgeblich an der Rekrutierung von Nachwuchs beteiligt gewesen sein. Der IS nutzt gezielt soziale Netzwerke wie Twitter, um Videos seiner Greueltaten, Bilder und Kommuniqués zu verbreiten.

Eines der schockierendsten Bilder soll Abaaouds damals 13-jährigen Bruder Younes mit einem Maschinengewehr zeigen. Younes soll von ihm in das Gebiet des selbsternannten Kalifats geholt worden sein und gilt als einer der jüngsten Anhänger des Islamischen Staates. Auf verschiedenen Bildern posiert der Junge mit Waffen in der Hand.

Younes Abaaoud, #djihadiste belge en #Syrie à 13 ans… pic.twitter.com/DYbO8NuspF
— Olivier Toscer (@OlivierToscer) April 3, 2014

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Der Stadtteil Molenbeek in Brüssel gilt als sozialer Brennpunkt und wurde vor einigen Jahren sogar als „No-Go-Area" bezeichnet. Es ist ein überwiegend arabisch geprägtes Viertel, die Islamistenszene ist stark. Von hier stammen auch zwei weitere Attentäter.

Im vergangenen Jahr erschoss Mehdi Nemmouche im jüdischen Museum in Brüssel vier Menschen. Vor drei Monaten konnte Ayoub al Khazzani von Touristen in einem Thalys Schnellzug überwältigt werden, er trug ein Maschinengewehr und Munition bei sich.

Screenshot Motherboard

Abdelhamid Abaaoud reiste womöglich im Januar 2014 aus, um sich dem Islamischen Staat anzuschließen. Auf Facebook finden sich Bilder von Abaaoud bei Schießübungen oder beim Fischen—auf den Aufnahmen befindet er sich vermutlich im Gebiet des IS. Videos auf Youtube zeigen ihn offenbar in Syrien. Laut der französischen Seite des Middle East Media Research Institute (MEMRI) soll Abaaoud aktiv an der Rekrutierung neuer Kämpfer und der Verbreitung von Videos beteiligt gewesen sein.

Belegen lässt sich dies mit einem Video, in dem Abaaoud zum Dschihad aufruft. Offenbar filmte er sich selbst bei einem Angriff, bei dem er sich mit einer Waffe hinter Sandsäcken verschanzt, im Hintergrund fallen Schüsse. „Zugegeben, es macht keine Freude Blut zu vergießen, " sagt Abaaoud. „Aber manchmal macht es Spaß das Blut der Ungläubigen zu sehen." Bekanntheit erlangte Abdelhamid Abaaoud durch ein Video, in dem er einen Pick-Up auf einen Acker fährt und dabei vier Leichen an Seilen hinter dem Wagen herschleift.

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Experten weisen immer wieder darauf hin, dass neben einzelnen radikalen Moscheen auch die Hochglanz-Netzpropaganda eine wichtige Rolle in der Gewinnung neuer Mitglieder für den IS spielt. Der IS steckt viele Ressourcen inklusive eigenem Medien-Center in die Rekrutierung. Die Dschihadisten setzen auf die Macht der Bilder und inszenieren sich bewusst bei der Durchführung von Greueltaten.

Japanische Internet-Nutzer trotzen der Propaganda mit eigenen Memes, um dem IS nicht das Netz zu

Abaaoud ist den Polizeibehörden in Belgien bekannt. Am 15. Januar diesen Jahres enttarnten lokale Beamten eine Dschihadisten-Zelle in Vervier. Bei der Durchsuchung erschießt die Polizei zwei mutmaßliche Komplizen von Abaaoud, er selbst ist nicht in der Wohnung und entkommt. Knapp einen Monat später erscheint in „Dabiq", dem englischsprachigen Propagandamagazin des IS ein Interview mit Abaaoud. Er nennt sich hier Abu Umar al-Baljiki, sein Kampfname ist „der Belgier".

In dem Interview beschreibt Abaaoud, wie er nach langer Planung mit seinen beiden Komplizen wieder nach Belgien einreiste, sie sich eine Unterkunft und Waffen beschaffen konnten. Sie wollten offenbar eine Person des öffentlichen Lebens kidnappen und köpfen, zugleich sollten die Polizei-Infrastruktur und Polizisten massiv angegriffen werden. Die Komplizen von Abaaoud kamen beim Großeinsatz der Polizei ums Leben.

Screenshot Motherboard

Im Interview erzählt Abaaoud, das sein Bild nach kurzer Zeit überall in den Medien kursierte und die Polizei nach ihm suchte. Angeblich soll er sogar von einem Beamten angesprochen und gemustert worden sein, er habe jedoch unbehelligt ausreisen können. Unmittelbar danach gab es in Spanien, Griechenland und weiteren Ländern Festnahmen. Die hätten aber alle nicht im geringsten was mit seinen Plänen zu tun gehabt, sagt Abaaoud.

Auf Nachfrage bei der belgischen Justiz und den Sicherheitsbehörden will man den Vorfall im Januar nicht kommentieren. Gestern gab es erneut eine Razzia im Viertel Molenbeek. Zwei Verdächtige sollen festgenommen sein, die Ermittlungen dauern an.

Sobald wir weitere Informationen von den Behörden über Abaaoud oder mögliche Anti-Terror-Maßnahmen bekommen, werden wir diesen Text entsprechend aktualisieren. Sobald wir weitere Recherchen zu den digitalen Spuren der mutmaßlichen Drahtzieher des Paris-Anschlages bestätigen können, werden wir die Informationen ebenfalls entsprechend auf Motherboard veröffentlichen.