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The Fiction Issue 2013

White Trash

Jamie Renda beschreibt die traurige Wirklichkeit der weißen Unterschicht. Schwangerschaften, Abtreibungen und Junkie-Mütter.

Illustrationen von Cristina Peral

Ich hatte nicht vorgehabt, mit Scott auf dem Klo ein Kind zu machen, auf Ecstasy zum Bass der House-Musik, die den Fußboden vibrieren ließ, während das Stroboskoplicht durch den Türspalt flackerte. Überall um uns herum Schultermassagen mit Hintergedanken. Noch so ein Todesexperiment. Ich war Opportunistin. Scott fickte nur, wenn er high oder betrunken war. Er machte überhaupt nie den ersten Schritt. Ich war oben. Vielleicht hatte ich vor, diesem Körperhaufen Leben einzuhauchen. Sein Torso ist wie die Brust eines Pferdes. Ich atmete mit ihm ein. Mir wurde schwindelig. Das Pochen seines verdammt großen Herzens inmitten dieser Menge von Luft machte mich wahnsinnig. Es fühlte sich gut an, wie der Tod. Wie Prozac, nur Millionen, Milliarden Mal besser. Wir waren alle, und was immer das war, würde die Wände des Hauses sprengen. Ich kratzte an dem blättrigen Putz. Das Haus verfiel. Er verschwand hinter seinem Arm. Als ich Scott kennenlernte, hatte er wunderschönes langes Haar, trug die Röcke seiner Mutter und Nagellack. Er benutzte meinen Lippenstift. Als ich mich vorstellte, zuckte er zusammen. Er sagte, Liebe sei ein zu großes Wort. Ich liebte es, ihn schmelzen zu sehen. Er schauderte. Er haute mich um. Ich flüsterte: „Oh mein Gott, ich möchte sterben.“

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Als ich schwanger wurde, stürzte der ganze verdammte Kram in sich zusammen. Ich bat Scott, mir einen Schwangerschaftstest zu kaufen. Stattdessen kaufte er Bier. Ich saß am Boden und trank Bier. Ich sagte es allen. Scott und Chuck und allen, die im Mad Hatter schliefen. Als ich es ihnen erzählte, wurden sie sofort nüchtern, bis auf Scott, und bis auf ihn zogen alle aus. Eines Abends kam Scott schielend nach Hause. Er nahm mich hoch, warf mich aufs Sofa und verlor dann auf der Treppe das Bewusstsein. Ich ohrfeigte ihn, bis er so nüchtern war, dass ich ihn die Treppe hinauf in sein Bett manövrieren konnte. Als ich ausgezogen war, fütterte niemand mehr die Katze. Niemand machte irgendwas sauber. Der Müll stapelte sich. Ich versuchte, Chuck zu vergessen. Scott wollte sich aufhängen, aber er konnte keinen Balken finden, der stark genug war.

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Ich zog wieder zu meinen Eltern. Ich sagte ihnen nicht sofort, dass ich bleiben wollte. Es hätte auch wie die letzten Male sein können, als ich ans Fenster geklopft hatte, um reingelassen zu werden, auf dem Sofa eingepennt war, Essen aus dem Gefrierschrank geklaut hatte und wieder verschwand. Oder es zumindest vorhatte. Bei solchen Gelegenheiten, wenn ich es verbocke und mich blamiere, verselbstständigt sich die Schande, und es wird immer schlimmer. Ich erzählte es meiner Mutter, und sie heulte und fluchte. Ich zog mich zurück, ging unter die Dusche, suchte ein paar Sachen zusammen, nahm meine Schlüssel und wartete auf das Echo. Als ich auf dem Weg zur Haustür an dem Zimmer vorbeiging, in dem sie abends sitzen, fernsehen und Wein trinken, rief mein Vater meinen Namen. „Jamie.“ Er saß allein auf dem Zweiersofa, die Augen starr auf irgendetwas an der gegenüberliegenden Wand gerichtet und knibbelte an seinen Fingernägeln. Meine Mutter saß tief eingesunken in ihrem dicken Polstersessel und sah mich mit großen Augen an, wie sie es immer tut, wenn sie etwas Fieses sagen will. „Du willst das Baby doch nicht wirklich bekommen, oder?“, fragte sie. Die Frage war kaum mehr als ein Hauchen. Als ich das letzte Mal schwanger war, mit 14, hatte sie genau dasselbe gesagt. Damals war Prozac die Lösung gewesen. Diesmal zwang mein Vater mich, telefonisch einen Abtreibungstermin zu vereinbaren, während er am anderen Apparat mithörte. Nach der Terminvereinbarung folgte eine obligatorische Informationsansage zum Thema Abtreibung, und wir hörten beide zu, er an seinem Schreibtischstuhl und ich neben ihm stehend. Als wir aufgelegt hatten, meinte er: „Pass auf, dass so was nicht noch mal passiert.“ Dann ließ er mich zurück in mein Zimmer gehen. Später dachte ich daran, sie zu fragen, warum sie alle meine Babys umbringen will. Wie hatte ich selbst bei einer Frau überlebt, die Babys umbringt, als fische sie Maden aus einem Waschbecken? „Ich werde dieses Baby bekommen“, sagte ich. Ich sagte es ziemlich leise. Ich machte Anstalten zu gehen. „Kuck dich doch an. Du kannst dich nicht um ein Baby kümmern. Meinst du vielleicht, ich ziehe es für dich groß? Ich arbeite. Ich hab ein Leben“, erwiderte sie und machte mit ihrem Glas Chardonnay in der Hand eine ausladende Geste. „Woher willst du denn wissen, was ich kann und was nicht?“ Ich fühlte mich stark. Das macht die Schwangerschaft—du fühlst dich tierisch stark. „Ich weiß doch, dass du Drogen nimmst. Deine Schwester hat’s mir erzählt. Bei all den Geburtsfehlern in der Familie und Gott weiß was für Drogen. Oh, Jamie.“ Dann wurde ihre Stimme sehr sanft und traurig. „Jamie, was machst du, wenn das Baby behindert ist?“

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Bei meiner ersten Abtreibung hatte ich mich, um das Baby nicht zu spüren, darin geübt, gar nichts mehr zu spüren. Meine Mutter fuhr mich zur Klinik. Dann fuhr sie mich nach Hause. Sie schickten mich auf die Berufsfachschule, und wir sprachen nicht mehr darüber. „Schatz, wir zahlen dir das. Danach kannst du zurück aufs College gehen. Das wird schon.“ Das hatte meine Mutter beim zweiten Mal gesagt. Aber es unterschied sich nicht groß von meinen Erinnerungen als Teenager. Ich sagte ihr, ich würde es nie wieder tun. Ich öffnete die Tür. Und beim Rausgehen hörte ich meinen Vater sagen: „Ich verstehe einfach nicht, wie du zu so einer Nutte werden konntest.“ Als ich danach wieder heimkam, durfte ich bleiben, weil uns etwas verband. Wir gehörten einander. Das Baby band mich an sie, enger als je zuvor.

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„Was bekommst du?“, fragte ein Typ und reichte mir den Joint. „Kätzchen“, antwortete ich. Ich zog daran und gab ihn weiter. Die Jungs in der Runde lachten. Die Katze kuschelte sich in meinem dicken Bauch ein. Scott war auf Montage und kam nur sporadisch heim. Er musste für das Baby zahlen; er musste arbeiten gehen. Er wohnte in dem Haus eines Satanisten, der in dem lavendelfarbenen Zimmer vor Jahren seine eigene Schwester gefickt hatte. Einmal war der Bruder des Satanisten die ganze Nacht aufgeblieben, hatte Starkbier getrunken und sich dabei mit einem Küchenmesser ein Stück Haut aus dem Hals geschnitten, das er anschließend ankokelte. Während der gesamten Zeit, die Scott dort wohnte, blieben die leeren Bierflaschen und die verbrannte Haut auf dem Küchentisch liegen. Um uns herum summten Fliegen. Eines Abends wartete ich im Wohnzimmer zusammen mit dem Satanisten darauf, dass Scott von einer Party nach Hause kam. Er hatte nämlich kein Telefon, und ich musste ihm dringend was über das Baby sagen. Der Satanist erzählte mir, er habe geträumt, ich bekäme ein Mädchen, und dass ihr Name mit „A“ anfangen würde. In seinem Traum hatte ich versucht, das Baby in der Toilette zu verstecken, aber es krabbelte immer wieder heraus. Der Satanist wartete auf eine Frau, die er im Internet kennengelernt hatte. Die Frau kam. Sie war älter und ungewaschen. Wir unterhielten uns zu dritt, und dann gingen die beiden nach oben. Ich saß in dem leeren Zimmer, bis Scott nach Hause kam. Dann erzählte ich ihm, was ich ihm hatte erzählen wollen.

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Das Krankenhauspersonal wollte mir das Baby erst gar nicht geben, obwohl ich darum bat, sie zu sehen. Eine Frau in einem Kittel schob einen durchsichtigen Plastikstubenwagen auf Rollen herein. Ich wollte das Baby hochnehmen, wusste aber nicht wie. Scott wusste es, aber er meinte, sie bräuchte vielleicht eine frische Windel, und er wüsste nicht, ob er das hinbekäme. Ich machte die Windel auf. Eine schwarze, teerartige Substanz überzog ihre Haut. Wir sahen uns an. Sie war ganz still. Ich nahm Feuchttücher aus dem Stubenwagen, machte sie sauber und warf das schmutzige Zeug in den Müll. Ich wusch mir die Hände. Scott zog ihr eine frische Windel an. Dann schob er eine Hand unter ihren Kopf, die andere unter ihren Körper und hob sie hoch. Er gab sie mir und zeigte mir, wie ich sie halten musste. Eine andere Schwester kam herein. Sie erklärte mir, wie man stillt, aber das Baby wollte nicht. Ich versuchte es nicht weiter. Scott hatte sich für die Geburt seiner Tochter ein Hemd angezogen. Tagelang trug er dieselben Sachen, als er mich zum Krankenhaus fuhr, sich kreidebleich das Spektakel ansah, die Nabelschnur durchschnitt, im Zimmer in einem Stuhl einschlief, mich stützte, als ich zum Rauchen in den Raucherbereich in der Tiefgarage humpelte. Auf der Heimfahrt saß er mit dem Baby auf der Rückbank. Ich fuhr. Zu Hause schlief er in einem Schlafsack auf dem Fußboden neben dem Kinderbett.

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In den nachfolgenden Wochen und Monaten träumte ich von Chuck. Ich vergaß, dass ich ein Baby hatte. Dann wachte ich eines Tages auf, und hatte Angst ins Kinderbett zu sehen. Sie machte Geräusche, die mir Schmerzen bereiteten. Ich schlief in meinem Bett und hielt meine Hände schützend über meine Genitalien, sie waren geschnitten, gerissen und genäht worden. Beim Duschen konnte ich all das spüren; ich konnte ein paar der schwarzen Fäden sehen, die sich durch das rosa- und lilafarbene Fleisch um das lange, weiße Narbengewebe wandten. Niemand hatte mir gesagt, wie ich damit umgehen sollte. Ich beschloss, nicht mehr zu der Ärztin zu gehen, die ich, noch während sie schon zum Schnitt ansetzte, angefleht hatte, nicht zu schneiden. Nicht mal, um die Fäden ziehen zu lassen. Das Baby und ich teilten uns ein Zimmer. Es befand sich im Kellergeschoss meines Elternhauses. Ich wusste nicht viel über Babys, aber ich war mir ziemlich sicher, dass sie nicht dafür gemacht waren, unter der Erde zu leben. Es war kalt und dunkel. Vielleicht war das ihr Problem. Während ich sie dort unten in den Schlaf wiegte, sahen ihre großen blauen Augen mich an. Ich vergrub meine Nase in ihrem Haar. Diesen Geruch prägte ich mir ein.

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Wenn ich sie berührte, hatte ich den Eindruck, sie spürte meine Verzweiflung. Mein Baby, Scotts Baby. Ich dachte, wenn ich nachts weinte, wäre ich ganz leise, aber sie wachte jedes Mal auf, und dann weinte ich und wiegte sie und sang und weinte und wiegte sie und sang. Ich gab sie meiner Mutter und ging. Meine Arme fühlten sich leer an. Ich dachte darüber nach, von der Straße runter in den kalten Fluss zu fahren, ging aber stattdessen mit Chuck was trinken. Es dämmerte schon, als wir bei ihm ankamen. Es gab ein Sofa, aber wir legten uns beide auf die Luftmatratze am Boden. Ich hatte mich von ihm weg auf die Seite gedreht. Ich sagte das, worauf er gewartet hatte. Er drehte sich um, legte einen Arm um mich und schmiegte seinen Körper an meinen Rücken. Er küsste meinen Nacken. Ich drehte mich um und küsste ihn auf den Mund. Er war fordernd und doch zärtlich, auf eine Art, die ich nicht erwartet hatte. Er war sinnlich. Seine Fingerspitzen. Abgesehen davon habe ich dazu nichts Wichtiges zu sagen.

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