Aktivist Mouctar Bah steht in seinem Laden in Dessau
Alle Fotos: Franziska Lange
Politik

Dieser Mann kämpft seit 15 Jahren dafür, dass Oury Jallohs Tod aufgeklärt wird

Dieser Kampf hat Mouctar Bahs Bild von Deutschland vollkommen zerstört.

Mit Schwung reißt Mouctar Bah die Tür zum Polizeirevier Dessau-Roßlau auf. "Da hinten ist die Treppe, da geht es zu den Zellen. Dort haben sie ihn verbrannt", sagt er deutlich lauter, als es in dem kleinen Vorraum nötig wäre. Die Frau am Empfang schaut hoch, rechts bellt ein Hund, ein Polizist hält das Tier zurück. "Der Rauch kam bis hier oben", spricht er weiter, deutet auf den Gang hinter einer Glasscheibe, ignoriert Hund und Polizisten. Die Polizisten wiederum beobachten ihn, sagen nichts. Ziemlich sicher kennen sie den Mann, der da in der Halle steht. Mouctar Bah hat seit 15 Jahren viel mit der Polizei in Dessau-Roßlau zu tun. Er kämpft dafür, dass der Tod seines Freundes aufgeklärt wird.

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Dieser Freund hieß Oury Jalloh. Er verbrannte in einer Polizeizelle in Dessau. Die Polizei erklärte, Jalloh habe sich selbst angezündet, habe Selbstmord begangen. Das war 2005. Mittlerweile gilt der Fall vielen als Symbol für ungesühnte Polizeigewalt und unfähige Behörden, für lügende Beamte, für institutionellen Rassismus. Es gab zwar zwei Prozesse und Verurteilungen, aber noch immer sind viele Fragen offen. Die Initiative "Break the Silence – im Gedenken an Oury Jalloh" kämpft seit Jallohs Tod dafür, dass der Fall aufgeklärt wird. Zusammen mit Jallohs Familie beauftragten sie Gutachten, legten Beschwerden gegen Gerichtsurteile ein, zogen sogar vor das Bundesverfassungsgericht. Mouctar Bah hat die Initiative gegründet.

"In meinem Albtraum hätte ich mir nie vorgestellt, dass so etwas in Deutschland passieren könnte", sagt Bah Ende Oktober in einem Café am Kottbusser Tor in Berlin-Kreuzberg. Er trägt eine schwarze Jeans, darüber ein weißes Shirt, auf das Oury Jallohs Foto gedruckt ist. Bah zieht die Augenbrauen zusammen, klopft bei manchen Sätzen mit dem Zeigefinger im Takt seiner Worte auf den Tisch, als wolle er sie unterstreichen. Er erzählt vom Tod seines Freundes, als würde er zum ersten Mal davon berichten. Dabei hat er in all den Jahren unzählige Reden bei Demos gehalten und Fragen in Interviews beantwortet. Nach einer Pause fügt er hinzu: "Ich hatte 100 Prozent Vertrauen in dieses System, diesen Rechtsstaat. Aber Deutschland ist genauso korrupt wie alle anderen Länder."

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Zum Beispiel wie Guinea, dem Land, in dem Mouctar Bah geboren wurde und das er mit 19 Jahren verlassen hat. Nicht wegen der Korruption; sein Vater starb früh und weil seine Mutter nicht arbeitete, konnte sie ihn und seine Brüder kaum versorgen. Weil Bahs Onkel damals schon in Deutschland lebte, war für Mouctar Bah klar: Dorthin will er auch. Er kenne das Land nicht nur aus den Erzählungen des Onkels, sondern auch aus Krimiserien wie Derrick und Der Alte. Die habe er oft zusammen mit seinem Vater geschaut.

Zwei Fernseh-Polizisten, die selbst schwierigste Kriminalfälle aufklären, prägten also das Bild, das Bah von Deutschland hatte. Er sah ein Land, in dem Ermittler sich bemühen, Todesfälle aufzuklären – no matter what. Das erklärt, warum er so angetan war von Deutschland, dem System, der Politik, der Justiz. Dass Mouctar Bah selbst einmal jahrelang mit einem Kriminalfall zu tun haben würde, in dem Polizisten mutmaßlich Beweismittel fälschten, dass er einmal sagen würde "Ich kämpfe, um zu zeigen, wie dieser Rechtsstaat funktioniert. Wir haben keine Rechte in diesem Staat", hat er damals nicht geahnt.

Bah fasste schnell Fuß, lebte erst in Berlin, zog dann nach Dessau. Er wollte sich selbständig machen und wusste, dass in Sachsen-Anhalt die Mieten günstiger sind. Sein Plan ging auf, er eröffnete ein Internetcafé, in dem er auch Waren aus Afrika verkaufte. Haargele, Süßkartoffeln oder Reis. Der Laden lief gut. Geflüchtete und Menschen, für die der Laden ein Stück Heimat bedeutete, kamen täglich zu ihm, um zu telefonieren, zu surfen, zu reden, sich auszutauschen. Bah sagt, er habe geholfen, wenn er konnte. Übersetzte Briefe vom Amt, vermittelte Kontakte, erklärte das Aufenthaltsrecht. Irgendwann stand auch Oury Jalloh vor ihm.

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Ein Sticker mit dem Gesicht von Oury Jalloh klebt an einer Laterne in Dessau

Oury Jalloh ist in Dessau überall

Jalloh, damals Mitte 30 und aus Sierra-Leone nach Deutschland gekommen, bat Bah um Hilfe, seine Tochter wiederzubekommen. Die Eltern von Jallohs 17-jähriger Freundin hatten das Kind nach der Geburt zur Adoption freigegeben – gegen Jallohs Willen.

Seinen Wunsch konnte Bah nicht erfüllen, aber die beiden wurden Freunde. Bah nannte ihn Rasta. Rasta, erzählt Bah, habe die deutsche Politik noch mehr geliebt als er. Oft schaute er Debatten im Fernsehen, berichtete hinterher im Café davon. Sie spielten Fußball zusammen, manchmal auch Tischtennis. Sie besuchten die Videothek und liehen sich Filme aus. Sie gingen aus, Billard spielen und tanzen. Zwei Jahre lang sahen sie sich zweimal die Woche. Auch an dem Tag, an dem Jalloh verbrannte.

All das erzählt Mouctar Bah bei einem Spaziergang durch Dessau. Auch heute trägt er wieder ein Shirt mit Oury Jallohs Gesicht. So eins trage er immer, sagt er, manchmal auch zum Schlafen. Dasselbe Profil schaut Passanten auch von Laternen, von Ampeln, von Häuserwänden aus an. Überall in Dessau hängen Jalloh-Sticker. Bah zeigt das Gebäude, das einst die Videothek war und das nun leer steht. Den Stein, auf dem sein Freund saß, als er verhaftet wurde. Und das Lokal, in dem sie oft tanzen waren, das mittlerweile eine Tabledance-Bar ist. Vieles wandelt sich in dieser Stadt und auch Mouctar Bah hat sich verändert. Videos auf YouTube zeigen einen sechs Jahre jüngeren Mouctar Bah, das Gesicht schlanker, die Haut glatter. Man kann sich gut vorstellen, wie Jalloh und er einst um die Häuser gezogen sind.

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Mouctar Bah sitzt auf einem großen Stein an einer Straße

Mouctar Bah sitzt auf dem Stein, auf dem sein Freund Oury Jalloh saß, als die Polizisten ihn verhafteten

Während des Treffens in Dessau klingelt sein Telefon ununterbrochen. Bah ist mit seinem Wissen über die deutschen Behörden gefragt. Beim Bäcker überreicht ihm ein Mann einen dicken Umschlag mit Papieren. In Bahs Treffpunkt, der der Laden heute ist, kann er sich schwer auf ein Gespräch konzentrieren. Immer wieder kommen neue Leute, die ihm Fragen stellen wollen. Aus dem Telecafé ist über die Jahre eine Anlaufstelle für Geflüchtete geworden. Bah vermittelt Anwälte und sammelt Geld für deren Bezahlung, wenn das nötig ist.

Beim Gespräch wirkt Bah müde, sein Haar wird langsam grau. Dass er sich seit Jahren für seinen Freund engagiert, hat ihn auch zur Zielscheibe für Anfeindungen gemacht. Bah erzählt: Polizisten durchsuchten seinen Laden nach Drogen, fanden nichts. Rechte drohten ihm, schmierten Hakenkreuze auf den Boden vor den Eingang seines Telecafés, verprügelten ihn. Das Ordnungsamt entzog ihm 2008 seine Gewerbelizenz. Bah gab nicht auf. Im Gegenteil: Er wurde zu dem Vollzeit-Aktivisten, der er bis heute ist. Für sein antirassistisches Engagement und seine Zivilcourage hat ihm die Internationale Liga der Menschenrechte 2009 die Carl-von-Ossietzky-Medaille verliehen.

Ein Schild mit der Aufschrift

Wir rufen die Polizei: Dieses Schild hängt am Eingang zu Mouctar Bahs Laden in Dessau

Warum aber änderte Mouctar Bah sein Leben für einen Mann, den er nur zwei Jahre kannte? Das liegt an jenem Abend vor Jallohs Tod. Die beiden waren verabredet, wollten tanzen gehen. Jalloh war vorbeigekommen, um Bah abzuholen. Aber der Laden war noch rappelvoll. Also zog Jalloh alleine los. Nach Feierabend war Bah zu müde, um auszugehen, und kam nicht mehr. Am nächsten Morgen war Jalloh tot.

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"Ich fühle mich für seinen Tod mitschuldig", sagt Mouctar Bah beim Gespräch in Berlin. "Der Fall von Oury Jalloh verfolgt mich jede Sekunde, jede Stunde. Er geht nicht aus meinem Kopf raus."

Während er an diesem Nachmittag spricht, wandert sein Blick immer wieder ins Leere. "Wie können Menschen so etwas machen?", fragt er immer wieder. Wenn er erzählt, legt er seine Stirn in Falten. Fassen kann Bah den Fall auch nach all den Jahren nicht. Für ihn ist klar: Die Beamten haben Jalloh ermordet.

Mouctar Bah steht vor dem Polizeipräsidium in Dessau-Roßlau und schaut grimmig

Hinter diesen Mauern verbrannte Oury Jalloh

Das war nicht immer so. Anfangs hatte auch Bah Zweifel. War es tatsächlich möglich, dass sein Freund eine feuerfeste Matratze unter sich in Brand gesteckt hatte, obwohl die Polizisten ihm Hände und Füße mit Handschellen ans Bett gefesselt hatten? Sagen die Beamten doch die Wahrheit? Diese Gedanken verschwanden erst, als Bah die Situation nachstellte. Als er selbst fixiert auf einem Bett lag und es ihm nicht gelang, die Matratze unter sich mit einem Feuerzeug anzuzünden. Das war der Moment, in dem Bahs Bild von Deutschland in tausend Teile zersprang.

"Ich wusste von Deutschland und seinem Problem mit Rassismus", sagt Bah. "Aber ich dachte, das wäre Vergangenheit." Dass er noch immer so tief in vielen Köpfen und offenbar auch in einigen Institutionen sitzt – er hätte es niemals für möglich gehalten.

Trotzdem: Deutschland wieder zu verlassen, ist für ihn keine Option. Er will den politischen Kampf nicht beenden. Längst geht es nicht mehr nur um seinen Freund. Bah sagt, er wolle nicht in einer Welt leben, in der Nicht-Weiße Menschen schlechter gestellt sind als Weiße. Selbst wenn der Fall von Oury Jalloh irgendwann einmal aufgeklärt werden sollte, will er sich weiter antirassistisch engagieren. Der Kampf ist so sehr Teil seines Lebens geworden, dass ohne ihn kaum etwas von Mouctar Bah übrig bleibt. Mouctar Bah braucht den Kampf.

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Typisch Deutsch: Biergarten und Tagesgerichte. Auch typisch Deutsch: Rassismus?

In der Straßenbahn in Dessau schaut Bah aus dem Fenster. "Überall diese doofen Bilder", sagt Bah, meint das Plakat einer NGO. Es zeigt ein mageres, Schwarzes Kind und ruft für Spenden auf. "Die Leute denken: Schwarze sind arm und kommen nach Deutschland, um ihnen etwas wegzunehmen. Das ist so scheiße."

Ob er nach Deutschland gekommen wäre, wenn er all das vorher gewusst hätte, frage ich ihn. Bah zieht den Kopf in einem kleinen Ruck zurück und antwortet schnell: "Um Gottes Willen, nein."

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