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Quantified Suff: Mit Apps und Tracking zum selbstoptimierten Alkoholkonsum

Ich war eine Nacht lang in Berlin mit Fitness-Armbändern und „Quantified Self“-Anwendungen unterwegs.
All photos: Janis Kaiser.

Vermesse dich selbst. Welche Verheißung! Vielleicht hast auch du schon mitbekommen wie die Ausläufer der US-amerikanischen Quantified-Self-Bewegungen mit immer neuen Apps unseren Alltag verbessern. Gesammelte Daten versprechen Unterstützung in jeder Lebenslage: Jogging-Routen, Diät-Pläne, Arbeitsleistungskontrolle, Vor-Zombies-FlüchtenMenstruations-App, Meditationsroutinen, Traumdeutung und vieles weitere kannst du dir inzwischen von einer stetig wachsenden Flut von Smartphone-Anwendungen und kleinen Apparaten vorrechnen und optimieren lassen.

Ich lade mir also eine Reihe von Apps herunter, die mir dabei helfen sollen, meine Realität auf unterschiedlichste Weise in Daten zu verdünnen, und meinen feuchtfröhlichen Berliner Samstagabend in Zahlen und Graphen zu transformieren: meinen Alkoholpegel (BAC Calc), meine zurückgelegte Distanz und Schritte (Nike Fuelband, Jawbone UP), meine Gefühle (T2 Mood Tracker), finanzielle Ausgaben (Mint), mein Gewicht (rTracker), Orgasmen (Nipple) und letztlich meinen Schlaf (Sleep Cycle).

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Bevor ich mich auf meinen Weg zu einer Tour durch Neuköllner Bars mache und später mein Glück an der Berghain-Tür versuche, schnalle ich mir noch zwei schicke Armbänder um meine aristokratischen Handgelenke, die mich sofort in eine Art Cyber-Wolfgang-Petry verwandeln.

Zeit 22.15
Schritte: 47
Herzschlag: 36
Gefühle: Iritiert, unter Druck, angespannt
Finanzielle Ausgaben: 4,50 Euro
Gewicht: 69 Kilo
Alkohol: 0.000%
Orgasmen: 0

Ich muss sagen der Herzschlag von 36 irritiert mich etwas. Hat mir etwa jemand Heroin in den Gin Tonic geschüttet? Auch wenn ich bei einer App, die meinen Herzschlag mithilfe meines sanften Druckes auf die Kamera meines Smartphones vermisst, technische Unzulänglichkeiten nicht völlig ausschließen möchte, fühle ich mich erstmal verunsichert in der großen weiten Datenwelt.

Diese App ist nichts für Hypochonder wie mich. Ich flüchte mich also lieber in die Aufzeichnung meiner köstlichen Dumplings und Entenbrust, während meine 3 Freunde im Restaurant noch mit ihrem Nachtisch beschäftigt sind, für die sie jede Diätapp sicher automatisch ausgeloggt hätte. Die 250 kcal, die das Essen laut Schätzung der werten Köchin enthält, sollten mich gut durch den Abend bringen.

Die Portionen von Dr. To's Asia-Anti-Kitsch-Menü machen allerdings auch mein Tag- und Nachtpensum von 2000 Schritten auf meinem FuelBand zum Gebot um im Rahmen meiner berechneten Körpermaße zu bleiben.

Auf weitere Selbstvermessung im Zusammenhang mit Lebensmitteln habe ich dann getrost verzichtet—und den Urin Test und die Pseudo-Stuhlgang-Prognose von Stool Scanner einfach mal übersprungen.

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Echte Quantified-Self-Fans hören mit ihrer Selbstvermessung natürlich nicht vor der Toilettentür auf, aber angesichts einer lockeren abendlichen Runde bestellte ich mir lieber noch einen Rum Sour, und bringe meine Geheimwaffe für eine weiterhin angenehme Plauderei in Stellung: Die Conversation Starter App Hypothetical.

Eine Small-Talk-App, die ausnahmsweise nicht ich mit Daten füttern muss, sondern die Smartphone-fixierte Soziophobiker von ihrer Ungewandtheit heilen soll, und verspricht in echte Kneipenhelden zu verwandeln!

Zeit 23.55
Schritte: 195
Herzschlag: 100
Gefühle: Wach, hoffnungsvoll, ruhelos
Finanzielle Ausgaben: 36 Euro
Gewicht: 70 Kilo
Alkohol: 0.065%
Orgasmen: 0

Etwas angetüddelt verlassen wir das Restaurant. Die WTF Version des Konversationsstarters ist wirklich nur sehr eingeschränkt zu empfehlen. Will heißen: eigentlich nur in Unterhaltungen mit 14 jährigen Scheidungskinderteens beim abendlichen Flaschendrehen mit Psychopathen.

Anderen dürfte die unverbindliche Frage, ob man es lieber hätte, dass der Partner vergewaltigt wird oder einen betrügt dann doch eher den Appetit verderben.

Wir ziehen also weiter in die nächste Bar, und ich bin beruhigt, dass mich die Wegstrecke in einer etwas zu kalten Neuköllner Frühlingsnacht meinen auf dem FuelBand einprogrammierten Zielen wieder etwas näher bringt. Ein dezenter Blick auf das leuchtende Display verrät mir, dass ich noch meilenweit von meinen Zielen entfernt bin.

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Nach zwei exzellenten Botucal-basierten Old-Fashioned in meiner liebsten Bar, beginnt mein Handy plötzlich mit unangenehmen Alarmgeräsuchen, während wir im Taxi durch die Kreuzberger Nacht gleiten: Meine Budget-App Mint erinnert mich daran, dass ich im Vergleich zu meiner Einkommensklasse heute Abend schon außergewöhnlich viel Geld für mein leibliches Wohl ausgegeben hätte. Wegdrücken, stumm schalten. Und nicht weiter brav von Hand meine Ausgaben in dieses Spaßbremsen-Programm loggen.

Zeit 3.35
Schritte: 395
Herzschlag: 85
Gefühle: Optimistisch, angespannt, sicher 
Finanzielle Ausgaben: 62 Euro
Gewicht: 70 Kilo
Alkohol: 0.090%
Orgasmen: 0

Schließlich finde ich mich in der Schlange zum Berghain wieder. Und während sich die anderen Wartenden noch mit Überlegungen zum weltbekannten Fotoverbot langweilen, erfreue ich mich Gedanken am Distinktionsgewinn dank meiner Gadgets am Handgelenk.

Ich denke unweigerlich an die Berghain App, die kürzlich von einem hilflosen Start-Up-Kreativen auf einer Konferenz gepitcht wurde, aber zum Glück nie umgesetzt wurde—schließlich sind Smartphone-Tipps, wie du ins Berghain kommst, bestimmt nicht der richtige Weg an den unnötig berüchtigten Türstehern vorbei.

Viel praktischer ist es in der Schlange vor dem Berghain einen Blick auf Cloak zu werfen. Die App soll mich vor all meinen Ex-Freundinnen, Arbeitskollegen und sonstigen Menschen bewahren, die meinen Puls nur unnötig in die Höhe treiben würden.

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Ich logge mich also auf Foursquare ein, was ganze 3 (!) meiner sonstigen Facebookkontakte benutzen. Keiner davon lebt in Deutschland. Immerhin theoretisch könnten wir mit der Antisozialen-App aber unangenehm angetüddelte Begegnungen im Berghain vermeiden.

Aber auch ohne durch meine mobile Datenmaschine zu wissen, wer und was eigentlich heute Nacht im Club auf mich wartet, bleibt mir nix anderes übrig als den Weg ins Berghain auf mich zu nehmen—einstündiges Warten inklusive. Den Rest meines Abends auf der Tanzfläche zu verbringen ist zu meiner letzten Chance geworden mein mir aufoktroyiertes NikePlus-Schrittepensum noch zu erreichen.

Zeit 8.35
Schritte: 1.896
Herzschlag: 130
Gefühle: eh ? müde
Finanzielle Ausgaben: 117 Euro
Gewicht: 69 Kilo
Alkohol: 0.103%
Orgasmen: ☹

Irgendwann geh auch ich nachhause, ohne mich noch weiter dafür zu interessieren wo meine Freunde denn gerade so auf Nike+ herumtracken und wie ich im Vergleich zu ihrer Schritte-High-Score so liege. Ich nehm ein Taxi, fasele irgendetwas Negroni und Mai Tai induziertes mit türkischer Politik zum Taxifahrer, der mich lachend vor meiner Tür absetzt und werfe mich in mein Bett.

Das Nachwummern der Function-One-Anlage wiegt mich schnell in einen tiefen Schlaf—was ich auch ohne Schlafzyklus-App getrost feststellen kann, die ich in diesem Zustand natürlich vergessen habe anzuschalten. Zum Glück kann ich mich am nächsten verkaterten Morgen immerhin noch daran erinnern lassen wie meine Stimmung gestern war:

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Quantified Self ist die enthusiastische Schokoladenseite mit denen eine Vorhut von Buchhaltern die Welt in Richtung ihrer unhinterfragten und normalisierten Werte peitschen. Nicht umbeachtliche Mengen an Silicon Valley Inkubatorkapital fließt seit geraumer Zeit genau in diese Art von Projekten.

Die ausführliche Aufzeichnung des eigenen Lebens mag in bestimmten Situation und für manche Menschen ein hilfreiches Konzept sein. Aber als persönliches Quanitified-Self-Fazit nach einem Berliner Samstagabend bleibt bei mir nur hängen, dass das ganze „Activity Tracking“ erstens relativ aufwendig und zweitens unangemessen selbstbezogen ist.

Während mir noch die Worte von Quantified-Self-Botschafter Gary Wolf durch meinen Hangover-Kopf spuken, mit denen er seine Visionen einer nerdigen Selbstvermessung anpreist, denke ich daran, dass die Avantgarde der panoptizistischen Selbstvermesser in einigen Jahren bestimmt viel bequemere Apps und wirklich tragbare Wearable Technology am Start haben wird.

Ich wünsche mir nichts sehnlicher als Apparate, die mir meinen Abend automatisiert aufzeichnen, ohne dass ich überhaupt noch darüber nachdenke oder auf mein Smartphone schaue. Oder wie wäre es mit einem implantierten Mikrochip, der sich an meine individuellen Rave-Gewohnheiten anpassen kann?

Bis es soweit ist werde ich mich an den Wochenende erstmal fleißig weiter optimieren—auf meinem Weg zum automatisierten Alkoholiker.