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Mit Big Data gegen Fukushima

Die Hacktivisten von Safecast bieten Geigerzähler-Workshops an und konnten inzwischen eine detaillierte globale Datenkarte aufbauen, die unabhängige Informationen zum Schutz vor Radioaktivität bietet.
Bild: Safecast

Deutsche Untertitel für das Video von VICE Japan können im YouTube-Player ausgewählt werden.

Spätestens seitdem ein Tsunami zum verheerenden Atomunfall in Fukushima führte, wurde das Wort Radioaktivität zu einem sich ständig wiederholenden Begriff unseres kollektiven Bewusstseins. Radioaktivität macht uns Angst, weil wir sie nicht sehen können. Umso schlimmer ist es, wenn man die Bevölkerung—wie in Japan geschehen—völlig unaufgeklärt in einem Informationsvakuum zurücklässt, während sich die Radioaktivität langsam weiter ausbreitet.

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Die Art und Weise, wie Japans Bevölkerung und Regierung mit den Gefahren der radioaktiven Verseuchung umgehen, wird nicht nur die energiepolitischen Debatten der Zukunft prägen, sondern auch die politische und soziale Zukunft Japans entscheiden. Das kürzlich beschlossene Gesetz gegen die Weitergabe staatlicher Geheimnisse, das Journalisten mit Terroristen gleichsetzt, hat dazu geführt, dass sich viele Menschen fragen, was die Regierung eigentlich vertuschen will—ist es womöglich die wiederbegonnene militärische Aufrüstung oder vielleicht doch die radioaktive Verseuchung? Die Gefahr einer solchen Politik liegt darin, dass sie Ängste, Verdächtigungen, Vertrauensverlust und Panikmache in der Bevölkerung heraufbeschwört und die Realität völlig verfremdet. Dieses Versagen der politischen Eliten führt dazu, dass die Bevölkerung selbst das Unsichtbare sichtbar machen muss.

Und genau das ist die selbsterklärte Mission von Safecast, einer Gruppe von Aktivisten, die mit selbstgebauten Geigerzählern und einem Netzwerk von freiwilligen Helfern eine Karte der radioaktiven Belastung von Japan erstellen—eine Karte, die bereits jetzt alle vorhandenen Regierungskarten an Genauigkeit, Detailgenauigkeit und Zugänglichkeit bei Weitem übertrifft.

Safecast entstand in den ersten Stunden nach der Explosion im Atomkraftwerk von Fukushima. Während ausländische Botschaften ihre Staatsangehörigen in die Heimatländer zurückbeorderten und besorgte Mütter unbelastete Baby-Nahrung aus dem Ausland bestellten, formierte sich diese bunt zusammengewürfelte Gruppe aus Freunden, Arbeitskollegen und Technikfreaks aus Japan und dem Rest der Welt in Tokios Hackerspace. Dort versuchten sie herauszufinden, was eigentlich während und nach der Explosion geschehen war und welche Folgen aus dieser Katastrophe für die Bevölkerung entstehen würden. Ganz oben auf der Liste von Safecast stand die minutiöse Aufzeichnung vorhandener Daten der sich ausbreitenden Radioaktivität.

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Etwa 48 Stunden nach der Explosion „waren wir geschockt, und zwar nicht nur über unsere scheinbare Unfähigkeit, Daten zusammenzutragen, sondern darüber, dass überhaupt keine Daten existierten", sagte Sean Bonner, der Chef von Safecast. Kurzum, die Aktivistengruppe begriff schnell, dass es gar kein System gab, das im Falle einer derartigen Katastrophe die radioaktive Belastung hätte aufzeichnen können—und das in einem Land, das fast vollständig von der Atomenergie abhängig ist.

Die erste Reaktion war, sich selbst Geigerzähler zu besorgen und die aufgezeichneten Strahlenwerte zu veröffentlichen. Unglücklicherweise hatte die nationale Hysterie dazu geführt, dass es fast keine Geigerzähler mehr auf dem Markt gab, selbst im Ausland war es schwer an die begehrten Messgeräte heranzukommen. Doch durch die großzügige Hilfe von Herstellern spezieller Elektronikteile und dem eigenen technischem Know-How war es der Gruppe möglich, die ersten rudimentären Geigerzähler selbst herzustellen. Schon wenige Wochen nach der Katastrophe wurden die ersten Strahlenwerte in der Gegend um Fukushima aufgezeichnet.

Die Gruppe lernte schnell, dass sich die Radioaktivität nicht einheitlich im Raum verteilt, sondern sich bisweilen sogenannte Hot-Spots mit besonders hoher Radioktivität bildet. So kann es passieren, dass die Nadel des Geigerzählers im Abstand von nur wenigen Metern gewaltig ausschlägt, manchmal sogar bis auf das Doppelte der Normalbelastung, die in Tokio bei etwa 30 bis 40 Impulsen pro Minute (Ipm) liegt. Dieser Zusammenhang wurde den Menschen in offiziellen Schadensberichten oft überhaupt nicht erklärt. Doch genau diesen Expertenmeinungen sollten die Menschen vertrauen.

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„Sagen wir, du willst das aktuelle Wetter in Tokio wissen", sagt Bonner, „und ich sage dir, dass die Durchschnittstemperatur in Japan in dieser Jahreszeit bei 25 °C liegt, dann weißt du immer noch nicht, ob du eine Jacke anziehen sollst oder nicht. In etwa so wurden aber die Strahlenwerte von offizieller Seite veröffentlicht—als grobe Durchschnittswerte. Im Grunde genommen ist das nicht falsch, es ist nur nicht besonders hilfreich."

Die Nadel des Geigerzählers kann im Abstand von nur wenigen Metern gewaltig ausschlagen. Dieser Zusammenhang wurde den Menschen in offiziellen Schadensberichten oft überhaupt nicht erklärt.

Das neuste Beispiel für dieses Problem entdeckte Safecast erst kürzlich in Koriyama, einer Stadt, die sich nur knapp 30 km vom zerstörten Reaktor befindet, und in der man die städtischen Parkanlagen angeblich vollständig dekontaminiert hat. Vergessen hat man dabei lediglich die Parkbänke, die—anders als der Rest der Parks—in den Aufgabenbereich einer anderen Behörde fallen. „Kein Problem, lasst eure Kinder ruhig wieder raus in die Parks", war wohl die beabsichtigte Botschaft der Stadtverwaltung. „Haltet sie aber fern von diesen grünen Parkbänken, die sind nämlich mit einer Dosis von 1000 Ipm radioaktiv verseucht", hätte man aber gleich hinzufügen müssen, wollte man den Leuten die Wahrheit sagen.

„Weil Safecast eine unabhängige und frei operierende Organisation ist, war es uns möglich, die Dinge schnell und unbürokratisch voranzubringen", sagt Bonner. Safecast hat sofort damit begonnen Open-Source Software und Hardware zu entwickeln. Sie entwickelten mobile Geigerzähler mit GPS, die man an Autos, Fahrräder, Mini-Drohnen oder an Rucksäcke anbringen kann. Mit diesen Geräten konnten die freiwilligen Helfer mobil alle fünf Sekunden voll automatisch eine Messung vornehmen.

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Die dafür entwickelte Software erlaubt es, die gespeicherten Strahlenwerte auf die Online-Plattform safecast.org hochzuladen. Dort werden alle Daten gebündelt und auf Karten markiert, die jeder online einsehen kann. Die iOS-App von Safecast ermöglicht es den Nutzern, die Strahlungsbelastung an ihrem jeweiligen Aufenthaltsort abzurufen. Dieser Service nutzt eine Datenbank mit mehr als 12 Millionen Messpunkten, die von den vielen freiwilligen Helfern von Safecast bis heute zusammengetragen wurden.

Der bGeigie Nano ist Safecasts selbstgemachter Geigerzähler. In Zukunft könnte er auch für andere Umweltmessungen verwendet werden. (Foto: Sean Bonner)

Eine der wichtigsten Aufgaben für Safecast ist die Verteilung ihrer Geigerzähler unter den vielen freiwilligen Helfern, die in alle vier Himmelsrichtungen ausströmen, um die Strahlungsmessungen vorzunehmen. Um das zu erleichtern, hat Safecast einen Selbstbaukasten entwickelt, mit dem jeder seinen eigenen bGeige Nano zusammenbauen kann. Dieses schmucke Gerät, das mit der Hilfe des Chumby-Mitbegründers Andrew „Bunny" Huang entwickelt wurde, hat Safecast letztes Jahr auch den Good Design Award eingebracht.

Jeder, der nur annähernd mit einem Lötkolben umgehen kann, kann sich einen funktionsfähigen Geigerzähler aus den Bestandteilen des Baukastens zusammenbauen und damit beginnen, Messungen von Radioaktivität an Safecasts Strahlungskarte zu übermitteln: Ja, auch du. Wenn du Hilfe brauchst, dann kannst du einfach, wie im obigen Video gezeigt, in einer der japanischen oder internationalen Bastler- und Hacker-Werkstätten von Safecast vorbeikommen und dir Tipps für deinen DIY-Geigerzähler holen.

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Allein an dem Tag unseres Besuchs in der Safecast-Werkstatt in Shibuya haben im Laufe des Tages ungefähr 20 Menschen mit selbstgebauten Geigerzählern den Workshop wieder verlassen. Hast du dir deinen eigenen Geigerzähler erstmal zusammengebaut, dann ist es äußerst einfach möglich, die gespeicherten Strahlungswerte in der Strahlenkarte von Safecast zu verlinken. Dazu schließt du einfach deinen Geigerzähler an einen Rechner und übermittelst die gespeicherten Daten von der Micro-SD deines Zählers an Safecasts Upload-Portal.

Das Projekt hat sich bereits auf Orte außerhalb Japans ausgebreitet: Große Flächen Europas und der USA wurden bereits abgedeckt und auch aus China und Korea schickten die Menschen bereits Daten. Die beiden Länder in unmittelbarer Nähe Japans haben schließlich genügend Gründe, sich selbst über die Auswirkungen des Reaktorunglücks in Fukushima Sorgen zu machen. Es gab sogar schon Strahlenwerte aus dem Sudan, von denen man annimmt, dass sie von radioaktiven Munitionsrückständen stammen.

Weil die gesammelten Daten für immer öffentlich bleiben, hat jeder die Möglichkeit, sie für seine eigenen Zwecke zu nutzen. So könnten Experten den radioaktiven Niederschlag über eine längere Zeitspanne messen, die Halbwertszeiten bestimmen oder Modelle entwickeln, mit denen man die Ausbreitung der Radioaktivität vorhersagen kann.

Das Gelände des Atomkraftwerks in Fukushima: Ein Rundgang mit dem bGeigie half dabei, diese Karte zu erstellen. An diesem Tag betrug der gemessene Höchstwert 192 Mikrosievert (μSv) pro Stunde.

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„Wie Menschen die Wahrheit interpretieren, hängt von Wissenschaftlern, Bürgern und Journalisten ab. Unsere Methode bietet eine neue Möglichkeit, Fakten zu sammeln und zu verbreiten. Dies steht im Gegensatz zu den kontrollierten Informationsquellen."

Seit ihren bescheidenen Anfängen hat sich Safecast gewaltig entwickelt. Heute hilft die Organisation dabei, ein mächtiges Werkzeug in die Hände derjenigen zu legen, die sie am meisten brauchen: Es sind vor allem die Menschen, die nach dem Unglück vom 11. März ihrer Regierung immer skeptischer gegenüberstehen. Der Zugang zu Informationen erscheint heute wichtiger als jemals zuvor. Umso verständlicher wird die Haltung der Skeptiker in Japans Bevölkerung, besonders wenn man diese Haltung vor dem Hintergrund des neuen Gesetzes gegen die Weitergabe staatlicher Geheimnisse, den wachsenden regionalen Konflikt mit China und den Enthüllungen über das wahre Ausmaß des Reaktorunglücks betrachtet.

„Die Menschen wollen nicht mehr alles hinnehmen, was man ihnen vorsetzt", sagt Bonner. „Ich glaube, die Menschen werden anfangen, Fragen zu stellen, an die sie vorher nicht mal gedacht hätten. Sie werden anfangen, tiefer zu graben. Und sie werden Antworten, die faul riechen, nicht mehr einfach hinnehmen."

„Was wir geschaffen haben, ist ein Raum gefüllt mit Wahrheit", sagt Ray Ozzie, ein Berater von Safecast und ehemaliger Chef-Entwickler bei Microsoft. „Wie Menschen die Wahrheit interpretieren, hängt von Wissenschaftlern, Bürgern und Journalisten ab. Unsere Methode bietet eine neue Möglichkeit, Wahrheit zu sammeln und zu verbreiten. Dies steht im Gegensatz zu den kontrollierten Informationsquellen."

Ozzie glaubt daran, dass ähnliche Technologien und Verhaltensweisen auch auf andere Umweltprobleme, wie die Luft- oder Wasserverschmutzung, übertragen werden können. „Es ist nicht wirklich klar, wem die Kontrolle über den Informationsfluss gehört", sagt er, „wenn wir aber nicht in der Lage sind, den Menschen die wichtigen Informationen zur Verfügung zu stellen, dann muss man sich fragen, wozu wir überhaupt diese ganzen technischen Gerätschaften brauchen? Ich glaube, wir können sie dafür einsetzen, Strahlenwerte zu sammeln und die Menschen so zu informieren, wie es nie vorher möglich war."

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